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Contributions scientifiques

Grauzonen der Rechtsetzung – Von Weisungen, Rundschreiben und anderen Erscheinungen

Einführung in das Thema

  • Catégories: Journée scientifique de la SSL
  • Proposition de citation: Martin Philipp Wyss, Grauzonen der Rechtsetzung – Von Weisungen, Rundschreiben und anderen Erscheinungen, LeGes 29 (2018) 3

  • 1. Einführung in das Tagungsthema

    [1]

    Politische Erwartungen und gesellschaftliche Spielregeln verdichten sich im Prozess der Rechtsetzung zu verbindlichen staatlichen Normen der Rechtsordnung. Ursprünglich weiche Regelungsideen werden harte Rechtsnormen. Der aus dem Völkerrecht entlehnten Formel vom «soft law» begegnet man mehr und mehr im Landesrecht: Branchenstandards, deontologische «Good Practices» werden in staatliches Recht transponiert. Gleichzeitig kann man beobachten, wie das staatliche Recht seinerseits «soft law» provoziert: Neben den Rechtsnormen in Gesetzen und Verordnungen bewirtschaftet die Behördenpraxis eine Fülle von normativ Zweideutigem: Rundschreiben, Weisungen, Empfehlungen und Verhaltenskodizes treten in Form, Inhalt und Sprache so autoritär auf wie Rechtsnormen, ohne es sein zu dürfen. Die diesjährige Tagung will diese Erscheinungen in verschiedenen Sachgebieten untersuchen, um diese dogmatisch schlecht erschlossenen und politisch heiklen «Grauzonen der Reglementierung»1 besser auszuleuchten.

    [2]

    Etwas versteckt – der Weg führt über die Seite zum Bundesblatt – findet sich in der Internetpräsenz der Bundeskanzlei eine Liste der Weisungen, die der Bundesrat erlassen hat.2 Die Liste verzeichnet 36 Dokumente mit ihren Fundstellen im Bundesblatt, die so unterschiedliche Bezeichnungen tragen wie «Marktmodell IKT Standarddienste», «Vorgaben des Bundesrates zur Beschäftigung und Eingliederung von Menschen mit Behinderungen» oder «Personalpolitische Leitsätze», die Themen der Sendenetzplanung oder der Zusammenarbeit des Bundes mit den Gemeinden betreffen oder Personalführungsfragen klären. Die Bundeskanzlei erklärt, dass sie den Begriff der «Weisung» als Sammelbezeichnung verwendet «für die verschiedenen Arten von nicht rechtsetzenden Verwaltungsverordnungen» und verweist weiter auf die einschlägigen Kapitel im Gesetzgebungsleitfaden des Bundesamtes für Justiz und der Gesetzestechnischen Richtlinien des Bundes – die sich ihrerseits als «Handlungsanweisung» für die formale Gestaltung der Erlasse des Bundes vorstellen. Bereits ein oberflächlicher Blick auf die verschiedenen Webangebote der Bundesverwaltung zeigt, dass es sich bei den von der Bundeskanzlei kompilierten 36 Weisungen nur um die Spitze des Eisbergs handeln kann: Vermutlich stellt jede Stelle der zentralen und der dezentralen Bundesverwaltung einerseits Dokumente bereit, die sich zwar in ihrer äusseren Aufmachung an rechtsetzenden Erlassen orientieren, aber dennoch keine allgemeinverbindliche Geltung beanspruchen.3 Andererseits finden sich Dokumente, die in eher «unbürokratischem» Tonfall normative Verbindlichkeit suggerieren. In Verwaltungspraxis und rechtswissenschaftlicher Literatur herrscht eine gewisse Orientierungslosigkeit im Umgang mit solchen Dokumenten: Sollen sie – etwa weil sie «Aussenwirkung» besitzen – den rechtsetzenden Erlassen gleichgestellt werden mit der Konsequenz, dass die entsprechenden Vorgaben über Erlassverfahren, Erlassgestaltung und amtliche Publizität einzuhalten wären und gegen sie gerichtliche Anfechtungsmöglichkeiten bestehen; oder handelt es sich um administrative Arbeitshilfen, die keine rechtlich relevante normative Geltung beanspruchen dürfen?

    2. Wer ist gemeint?

    [3]

    Verwaltungsverordnungen dienen der Rechtskonkretisierung. Sie sind zwar generell-abstrakter Natur, sie sind indessen als verwaltungsinterne Regelung an exekutive Stellen adressiert, weil sich mit ihnen die vorgesetzte an die nachgeordnete Behörde oder Dienststelle richtet; dennoch stellt man regelmässig fest, dass solche Verwaltungsvorschriften «unter Umständen durchaus über das Verwaltungsinternum hinaus auf den Rechtskreis der Bürger übergreifen können»4. In der schweizerischen Lehre wird versucht, diese Grauzone, in der die Verwaltungsverordnung angesiedelt ist, mit einer Differenzierung zwischen vollzugslenkenden, personal- und organisationsrechtlichen sowie aussengerichteten Regulierungen in den Griff zu bekommen. Es ist indessen fraglich, ob damit tatsächlich etwas gewonnen ist, wenn man feststellen muss, dass die aussengerichteten Verwaltungsverordnungen «eine besondere Art von «soft law» seien, weil sie «mehr empfehlend, aber doch nicht so verbindlich wie ein Rechtssatz»5 seien. Andererseits vermag auch das Postulat eines Teils der Lehre, Verwaltungsverordnungen Rechtssatzcharakter zuzubilligen, weder restlos zu überzeugen noch alle Probleme zu lösen.6

    [4]

    Solange Verwaltungsverordnungen nur behördenverbindlich sind, sich also ausschliesslich «begrifflich an die mit dem Vollzug einer bestimmten öffentlichen Aufgabe betrauten Organe, somit an die Verwaltungsbehörden mit deren Personal» richten, sind sie für das Publikum und die anderen und insbesondere für die rechtsanwenden Behörden so lange nicht verblich, als ihr Inhalt nicht in Widerspruch zur Rechtsordnung steht.7 Sie werden dem innerbetrieblichen Dienstbefehl gleichgestellt.8 Wo aber Verwaltungsverordnungen als «überschiessenden Effekt» Aussenwirkungen zeitigen, soll der «Bürger nicht schutzlos bleiben»9. Gegen Verwaltungsverordnungen steht zwar kein abstraktes Normenkontrollverfahren zur Verfügung, doch lässt das Bundesgericht die vorfrageweise Überprüfung zu.10 Trotz unbeschränkter Überprüfungsbefugnis weicht das Gericht allerdings von Verwaltungsverordnungen nicht ab, «sofern deren generell-abstrakter Gehalt eine dem individuell-konkreten Fall angepasste und gerecht werdende Auslegung der massgebenden Rechtssätze zulässt, welche diese überzeugend konkretisiert»11.

    3. Vollzugsharmonisierung

    [5]

    Als vollzugslenkend werden Verwaltungsverordnungen qualifiziert, die darauf ausgerichtet sind, eine einheitliche Handhabung des vom Gesetzgeber eingeräumten Verwaltungsermessens sicherzustellen.12 Mit ihnen können Auslegungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung behandelt werden, die in der behördlichen Praxis regelmässig auftreten.13 In solchen Fällen kann die Verwaltungsverordnung nur vom Verwaltungspersonal zu beachtende «Richtschnur» für eine einheitliche Vollzugspraxis sein, von der aber abgewichen werden soll, wenn die Besonderheiten des Einzelfalls dies erfordern.14 Im Bundesrecht finden sich verschiedene gesetzliche Aufforderungen an die Verwaltung, mit geeigneten Instrumenten den Vollzug zu standardisieren. Zur «Konkretisierung der internationalen Normen und Empfehlungen» kann etwa das Bundesamt für Zivilluftfahrt «Vorgaben (Richtlinien und Weisungen) für einen hochstehenden Sicherheitsstandard erlassen»; werden diese umgesetzt, «so wird vermutet, dass die Anforderungen nach den internationalen Normen und Empfehlungen erfüllt sind»15. Ähnliches ist im Bereich der Unfallverhütung für die Richtlinien der Koordinationskommission16 vorgesehen, die eine «einheitliche und sachgerechte Anwendung der Vorschriften über die Arbeitssicherheit» gewährleisten sollen; hält ein Arbeitgeber diese Richtlinien ein, «so wird vermutet, dass er diejenigen Vorschriften über die Arbeitssicherheit erfüllt, welche durch die Richtlinien konkretisiert werden.»17 Auch die eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) ist vom Gesetzgeber aufgefordert, mit «Rundschreiben über die Anwendung der Finanzmarktgesetzgebung» zu regulieren und Leitlinien zu den gesetzlichen Regulierungsgrundsätzen zu erlassen.18 Mitunter werden anderen Gremien vergleichbare «Verwaltungsverordnungsaufträge» erteilt,19 und kantonale Behörden koordinieren auf eigene Veranlassung den Vollzug des Bundesrechts durch Instrumente, die der Verwaltungsverordnung gleichgesetzt werden müssen.20

    4. «Handreichungen» und «Kochrezepte»21

    [6]

    Verwaltungsbehörden verstehen sich heute auch als «Service-Center», dem es obliegen soll, für nachgelagerte Dienststellen und für die Normadressaten die einschlägige Verwaltungs- und Gerichtspraxis zu kompilieren und praxisnah aufzubereiten. Solchen Handreichungen fehlt der normative Charakter: «Sie wiederholen nur und wollen nur wiederholen, was ohnehin zu gelten hat».22 In der Praxis sind solche Instrumente bedeutsam und können nicht zu vernachlässigende Wirkungen zeitigen. So hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) Wegleitungen zur Verordnung 3 vom 18. August 1993 zum Arbeitsgesetz (ArGV; SR 822.113) erlassen, mit denen die Anforderungen der Verordnung an Umkleideeinrichtungen, Waschanlagen und Toiletten näher ausgeführt werden. Das SECO deklariert seine Wegleitung als «Handbuch und Nachschlagewerk für die Praxis», das den Behörden und den Privaten «die Anwendung von Gesetz und Verordnung erleichtern» will.23 Es ist durchaus richtig und wichtig, dass die Verwaltungen den Normbestand, den sie zu vollziehen haben, bürgerfreundlich aufbereiten und in leicht zugängliche Informations- und Aufklärungsgefässe abfüllen, die den Bedürfnissen der jeweiligen Adressatengruppen gerecht werden. Dennoch muss sehr sorgfältig darauf geachtet werden, dass Praxisbeispiele und Erläuterungen für den Alltag in solchen Dokumenten den Rechtsrahmen nicht fahrlässig überschreiten und ein strenges Regime dort ankündigen, wo der Gesetzgeber bewusst einzelfallgerechtes Ermessen gefordert hat.

    5. Vorläufiges Fazit und Einstieg in die Tagung

    [7]

    Die Verwaltung greift oft und gerne zum Vehikel der Verwaltungsverordnung zurück, weil diese wichtige Steuerungs- und Klarstellungsfunktionen übernimmt und damit die Rechtsverordnung entlasten kann.24 Damit kann auch ein Beitrag zur Verwesentlichung des Bestands von Rechtsnormen geleistet werden, mit dem sich politisch gute Figur machen lässt. Entsprechend hat der Bundesrat kürzlich erklärt, dass er sich «nicht erst seit der Digitalisierung für die Instrumente [interessiere], mit denen im Gegensatz zu den klassischen, verbindlicheren Massnahmen des Rechts (Hard Law) ein flexibler Rechtsrahmen (Soft Law) geschaffen werden kann.» Er hat dafür neben Branchen(selbst)regulierungen, Verweisen auf die gute Praxis und auf Branchenleitlinien ausdrücklich auch die Möglichkeit genannt, «Richtlinien zu erlassen, wobei die von der Regelung Betroffenen die Vorschriften auch auf eine andere Weise erfüllen können»25. Allerdings erkauft man sich diesen politisch guten Ruf mit einem Mehr an Dokumenten, deren Erarbeitung sich im kameralistischen Obskuren abspielt, deren öffentliche Zugänglichkeit nicht durchwegs gesichert und vereinheitlicht ist und die – mindestens für den Rechtsschutz – praktische Zuordnungsfragen öfter vernebeln statt klären.


    Martin Wyss, Präsident der SGG, Bundesamt für Justiz und Universität Bern.

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