Der folgende Beitrag gibt den Inhalt des anlässlich der wissenschaftlichen Tagung 2018 der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung gehaltenen Referates zum Thema «Grauzonen der Rechtsetzung» wieder. Es galt, namentlich die Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz (SSK) oder jene anderer Gremien in der schweizerischen Strafrechtspflege aus der Warte des Anwenders der Gesetzgebung an der Front zu beleuchten und zu bewerten.
Dass es zum Thema «Empfehlungen» Diskussionen geben kann und eigentlich auch muss, liegt auf der Hand: Schon die Tagungsausschreibung unter dem Titel «Grauzonen der Rechtsetzung» lässt es erahnen: Mit Empfehlungen und Weisungen ist man offenbar unwohl und hat Befürchtungen: So soll die Behördenpraxis eine Fülle von normativen Zweideutigkeiten bewirtschaften, als würde man diese Zweideutigkeiten sprichwörtlich beackern, bearbeiten, bebauen, beforsten oder wie ein Feld bestellen, auf das es zünftig wachse. An sich wie Unkraut, da solches autoritär und invasiv auftritt, dabei die guten Pflanzen der Rechtsnormenzucht verdrängend, ohne das Recht zu haben, eine solch gute Pflanze sein zu dürfen.
Nicht ohne Grund war es daher notwendig, nicht minder provokativ einen Referatstitel zu wählen, damit dieses Spannungsfeld zwischen Notwendigkeit bis vielleicht sogar hin zum politischen Ärgernis ausgeleuchtet werden kann, hier natürlich auf die Strafrechtspflege beschränkt.
Die SSK ist wegen einer ihrer Empfehlungen wohl etwas zum Ärgernis geworden: Gestützt auf vermeintlich exakte Statistikzahlen aus Neuenburg glaubte man sich der Wahrheit des hässlichen und unfähigen Staatsanwaltes nahe, weil dieser den Volkswillen untergrabe, dies eben gestützt auf eine sogenannte «invasive, autoritative Empfehlung». So ist dem Amtlichen Bulletin des Ständerates aus seiner neunten Sitzung der Frühjahrssession 2018 zum Thema «konsequenter Vollzug der Landesverweisung» (Ip Müller 17.4201) folgendes zu entnehmen (Votum SR Müller AB 2018 S. 220):
«Wenn nun vonseiten der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz am 24. November 2016 Empfehlungen betreffend Ausschaffung abgegeben wurden, zur Frage, unter welchen Bedingungen man den Landesverweis nicht vornehmen solle, dann muss ich schon sagen: Wenn ich diese Liste der Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz, sprich der Ausnahmen, lese, dann habe ich meine Bedenken, ob die Staatsanwältekonferenz wirklich gewillt ist, den gesetzgeberischen Willen umzusetzen.»
Dass auf den Kanton Bern bezogen bei 258 Anklagen mit obligatorischer und fakultativer Landesverweisung und lediglich 8 Anwendungen der Härtefallklausel im Strafbefehlsverfahren das kolportierte Verhältnis von 52 zu 48 – oder mit anderen Worten: Von 100 Fällen solle bei 48 keine Landesverweisung ausgesprochen werden – nicht zutreffen kann und dass damit der Vorwurf der direkt vorsätzlichen Unterwanderung eines Gesetztes sehr hinkt, ist mittlerweile klar geworden. Aber ist es nun so, dass diese Empfehlungen, wie auch im Ständerat moniert, eine solche autoritative Wirkung haben? Oder was ist damit gemeint?
Zweifel, Unsicherheiten oder gar die Polemik verschwinden indes rasch, wenn man sich einige nach wie vor gültige Grundsätze vor Augen hält, die bei korrektem staatlichen Handeln – kombiniert mit dem eingeprägten Verständnis für die jeweiligen institutionellen Rollen und mit der Akzeptanz der fachlichen Rollen – nach wie vor Gültigkeit haben. Nur dergestalt kann eine Versachlichung stattfinden, welche die absolut notwendige Diskussion der wirklich dogmatisch interessanten Fragen ermöglicht.
Eine Empfehlung ist eine unverbindliche, in der Regel verbale Unterstützung. Sie ist daher der Gegenpol zur Pflicht, der Gesetzmässigkeit oder der autoritativen Vorgabe. Der Blick auf die erwähnten allgemeingültigen Rechtsgrundsätze lohnt sich daher sehr: Unbestrittenermassen untersteht das staatliche Handeln dem Grundsatz der Gesetzmässigkeit, welchem Verfassungsrang zukommt. Mit anderen Worten gilt das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage. Aus diesem Gesetzesvorrang resultiert die nach der Rangordnung der gesetzgebenden Behörden abgestützte Geltungskraft der Rechtssätze. Das heisst nichts anderes, als dass ein rangniedriger Rechtssatz einer ranghöheren Vorschrift nicht widersprechen darf. Das gilt einerseits für die bundesstaatliche Normenhierarchie, wonach Bundesrecht kantonales Recht bricht, oder auf kantonaler Ebene, wo kantonales Recht ihm widersprechendes Gemeinderecht bricht. Die Geltungskraft der Rechtssätze findet sich denn auch in der Nomenklatur wieder: So finden wir hier die uns heute interessierende Reihenfolge des Gesetzes vor der Gesetzesverordnung, das Dekret vor dem Reglement, der Weisung oder dem Rundschreiben.
Letztere sind Verwaltungsverordnungen (eben auch Weisungen, Richtlinien, Merkblätter etc. genannt). Sie stellen generelle Anweisungen einer vorgesetzten Behörde an ihre unterstellten Behörden dar. Solche Verwaltungsverordnungen, die sich auch in der Justiz finden, wie etwa das «Reglement des Bernischen Obergerichtes über die Aufgaben und Kompetenzen der als Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber tätigen Personen der Zivil-, Straf- und Jugendgerichtsbehörden», können die interne Organisation oder den Vollzug betreffen.
Selbstverständlich muss als Ausfluss der Gesetzmässigkeit die Norm, auf die sich eine solche Verwaltungsverordnung bezieht, diesen Handlungsspielraum einräumen, damit kodifiziert werden darf. Dies kann sich – selbstverständlich auch in der Strafrechtspflege – etwa auf die Konkretisierung von Gesetzesbestimmungen in einer Verordnung beziehen, wo es dann im Sinne der Delegationsnorm heisst «Der Regierungsrat regelt die Einzelheiten» – oder bezogen auf die Bernische Staatsanwaltschaft im Gesetz über die Organisation der Gerichtsbehörden und die Staatsanwaltschaft (GSOG; BSG 161.1) vom 11. Juni 2009 in Artikel 90 Absätze 2 und 3: «Die Generalstaatsanwältin oder der Generalstaatsanwalt leitet die Staatsanwaltschaft. Sie oder er ist für die fachgerechte und effiziente Strafverfolgung verantwortlich. Sie oder er kann im Bereiche der Staatsanwaltschaft Weisungen erteilen.»
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern – wie auch diejenigen der anderen 26 Kantone – verfügt selbstverständlich über den genannten Grundsätzen entsprechende Bestimmungen generell-abstrakten Inhalts, mit denen sie ihre Praxis für sich selbst oder für unterstellte Dritte zu formen trachtet. Es ist ein Regelwerk, in dem einerseits die sich aus dem Strafrecht, dem Nebenstrafrecht und dem Strafprozess zu ergebenden Handlungsfelder oder Gesetzesaufträge mit dem normenhierarchisch korrekten Instrument abgedeckt werden, damit, wie es das GSOG mit den auszufüllenden Worten oder gar Werten «fachgerecht und effizient» und die eidgenössische Strafprozessordnung mit den Bestimmungen ihrer beiden ersten Titel festhalten, rechtstaatlich einwandfrei und unabhängig gearbeitet werden kann.
Einerseits sind dies Vorgaben, die ganz klar den einheitlichen Vollzug und damit die Rechtssicherheit zum Ziel haben; sie sind Ausfluss der allgemeinen Vollzugskompetenz und des Hierarchieprinzips. Diese Vorgaben sind somit als Rechtssätze verpflichtend und damit oberste Leitschnur in der Staatsanwaltschaft. So wird in diesem Bereich beispielsweise festgelegt, welche Straftaten die Polizei der Staatsanwaltschaft zu melden hat. Die Grundlage dafür findet sich im Artikel 307 Absatz 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0): «Die Polizei informiert die Staatsanwaltschaft unverzüglich über schwere Straftaten sowie über andere schwer wiegende Ereignisse. Die Staatsanwaltschaften von Bund und Kantonen können über diese Informationspflicht nähere Weisungen erlassen». Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Gesetzesnorm von Konkretisierungsbedarf nur so strotzt und der Erlass «näherer Weisungen» sehr (oder gar zu?) einfach tönt. Was sind «schwere Straftaten»? Was sind «schwerwiegende Ereignisse?» Was heisst «unverzüglich»? Diese Aufgabe hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern mit der Weisung über die Information der Staatsanwaltschaft durch die Kantonspolizei geregelt, die sicherstellt, dass einheitlich genau das gemeldet wird, was von Belang ist, und dass im Kanton keine Unsicherheiten an der Polizeifront und in der Praxis entstehen.
Als weiteres Beispiel der Justizverwaltung kann die Weisung über Aktenführung und Aktenordnung im Einvernehmen mit der Strafabteilung des Obergerichts des Kantons Bern angeführt werden, die bezweckt, dass die Staatsanwaltschaften und die Gerichte des Kantons Bern mit einheitlich aufgebauten Akten arbeiten, die einen schnellen Zugriff und Vollständigkeit und damit hochqualifizierte, effiziente Arbeit ermöglichen.
Andererseits sind diese Verwaltungsverordnungen natürlich auch Führungsinstrumente, das andere zentrale Element, welches sich aus dem gesetzlichen Auftrag der Staatsanwaltschaften ergibt. Die Staatsanwaltschaften sind so zu organisieren, dass sie ihren Gesetzesauftrag nicht nur rechtsgleich und institutionell unabhängig, sondern auch organisiert und effizient erfüllen, um letztlich auch dem Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen. So finden sich in der Bernischen Gesetzessammlung das publizierte Organisationsreglement über die Staatsanwaltschaft, daneben die Organisationsreglemente der einzelnen Abteilungen, dies von der Wirtschaftsabteilung bis hin zur davon völlig unterschiedlichen Jugendanwaltschaft, soweit auch hier nicht Themen bereits durch das GSOG geregelt werden.
Über dreihundert Köpfe wollen geführt sein: Der persönliche Kontakt und die Transparenz stehen für die Führungspersönlichkeiten im Vordergrund. Der Mensch steht im Mittelpunkt, und daher ist es selbstverständlich, dass vieles zu regeln ist: Klarerweise und unabdingbar wird mit Soft law wie Leitbild, Code of conduct und Handlungsgrundsätzen bis hin zu Merkblättern in den Human Resources oder im Finanzbereich oder der Informatik gearbeitet. Führung lebt und hat modern zu sein, sie findet wie alles ihre Grenzen in Verfassung, Gesetz und Personalverordnungen. Empfohlen wird hier einiges, angewiesen und reglementiert, «gemerkblattet» auch. Diese völlig transparente und rechtsstaatlich einwandfrei geregelte und gelebte Zone gilt es an dieser Stelle von den angesprochenen vermeintlichen Grauzonen abzugrenzen. Aber der Einschub sei erlaubt: Würde man vermehrt differenziert den Titel eines Papiers lesen oder beachten, wie das Umfeld oder die Problemstellung oder ein Handlungsbedarf aussieht, käme man sehr oft zum unaufgeregten Schluss, dass der Inhalt so unheimlich grau oder verwerflich nicht sein kann: Wie so oft kommt es auf den Inhalt an, und nicht auf die Form.
Die heutige Normendichte ist beeindruckend, und die Gesetzgebung ist nicht überall harmonisch, die entsprechenden gesetzgeberischen Arbeiten sind per se anspruchsvoll und oft notwendig. Indes: Schlag auf Schlag werden neue Gesetze geschaffen, der Gesetzgeber ist höchst aktiv, namentlich im Strafrecht: Aber ist es denn wirklich richtig, dass das Strafrecht das einzige Mittel ist, um gesellschaftspolitische Probleme zu lösen, und dass – fatal genug – neue Gesetze mit mangelnder Einbettung in das bestehende Regelwerk eingefügt werden und so eine Disharmonie beispielsweise im Sanktionenrecht entsteht?
Ermessensspielräume sind vom Gesetzgeber bewusst gewollt. Als Paradebeispiel einer bewussten Ermessensgesetzgebung sei die Strafzumessung genannt, die hehrere Aufgabe der Gerichte, die neben dem komplexen Fall im Massengeschäft im Strafbefehlsverfahren oder im höchst anspruchsvollen Gebiet der selbstständigen nachträglichen Entscheide auch dem Staatsanwalt anvertraut ist. Sie wartet auf mit Begriffen wie «Einsatzstrafe», «Verschulden» oder «Täterkomponente», wo sich ohne Not die hohen Erwartungen des Gesetzgebers an die Strafjustiz ablesen lassen, wo sich aber auch das Potenzial für ungleiche Resultate bei gleichen Ausgangslagen auftut.
Die Schweiz ist ein komplexes Gebilde. Sie hat Bundesgesetze, das Strafgesetzbuch, das Bundesgesetz über den Strassenverkehr, dasjenige über die Betäubungsmittel, das Opferhilfegesetz, das Geldwäschereigesetz, und die Schweiz hat endlich eine eidgenössische Strafprozessordnung, die nun leider revidiert werden soll, dies obwohl sie noch sehr jung ist und sich als durchaus praxistauglich herausstellt, entgegen allen Vorstössen, die oft auf Partikularinteressen in der politischen Philosophie oder Arbeit zurückzuführen sind.
Indessen hat die Schweiz keine einheitliche Justizorganisation, zu der ich als Vertreter des Kantons Bern im Lichte seiner Justizverfassung die Staatsanwaltschaft dazuzählen darf. In der fehlenden schweizerischen Justizorganisation liegt die Crux: Unser Land lebt nicht mehr in der heilen Welt der einzelnen Kantone, die ihre «cuisine interne» ohne einen Blick über die Kantonsgrenze pflegen können. Kriminalität ist mobil, grenzüberschreitend, erfinderisch und schnell. Hier erweisen sich trotz einheitlicher Schweizerischer Strafprozessordnung die Unterschiede zwischen den verschiedenen kantonalen Justizorganisationen, die sich in Bereichen wie der obersten Aufsicht, der Unterstellung der Gerichtsbehörden oder der mannigfaltigen Ausgestaltung von Zuständigkeiten und Abläufen bemerkbar machen, bisweilen als nachteilig und als der Rechtssicherheit der Bürgerin und des Bürgers abträglich.
Dort ist somit der Grund zu finden, dass in den letzten Jahrzenten Verbindungen, Konferenzen und Gesellschaften gegründet worden sind, welche die föderalistische Vielfalt zugunsten des Ziels der Effizienz und der Rechtsgleichheit- und Rechtssicherheit in der Schweiz als Gesamtgemeinschaft und als Zusatz zur Rechtskontrolle durch die Gerichtsinstanzen etwas mindern sollen. Ausfluss des Versuchs, einerseits Sicherheit und Rechtsgleichheit in der Rechtsanwendung bestmöglich zu erreichen, sind einerseits ganz konkret Strafzumessungsempfehlungen auf kantonaler und eidgenössischer Ebene, aber auch Empfehlungen, die in der Verfahrensabwicklung helfen sollen, Inkompatibilitäten und damit eben wieder Unsicherheit zu vermeiden.
Es kann ja nicht sein, dass ein Automobilist in Genf für die exakt gleiche Geschwindigkeitsübertretung anders bestraft wird als im Kanton Aargau, wenn er seine Verwandten dort besuchen geht. Bestraft ja, aber gleich! Oder dass die Edition von Kontounterlagen im Kanton Basel-Stadt anders abläuft als im Kanton Graubünden. Oder dass diese von Bank zu Bank unterschiedlich gehandhabt wird. Oder dass die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft in Fällen von organisierter Kriminalität und Wirtschaftskriminalität wegen der komplexen Gesetzesmaterie unterschiedlich angegangen wird und es zu langwierigen Gerichtsstandskonflikten kommt, welche die Fälle im schlechtesten Fall in die Verjährung gleiten lasen. Oder eben dass – um das Einleitungsthema zu bemühen – die Landesverweisung völlig divergent gehandhabt wird.
In diesem Sinn haben sich beispielweise der Verband der Berner Richterinnen und Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte (VBRS) schon vor Jahrzenten gemeinsam entschlossen, für das Massengeschäft, also im Kanton Bern etwa 93‘000 Strafbefehle, von denen ein Teil durch Einsprache an die Gerichte weitergezogen wird, Strafzumessungsempfehlungen zu erlassen. Bei diesen Empfehlungen handelt es sich um Ansätze für die objektive Tatschwere eines Normalfalls ohne besonders erschwerende oder besonders erleichternde Umstände. Dieser Normalfall wird bei besonders häufig zu beurteilenden Delikten über einen «Referenzsachverhalt» definiert, mit dem der konkret zu beurteilende Sachverhalt verglichen werden kann. Diese Ansätze berücksichtigen damit u. a. allfällige Einschränkungen der Schuldfähigkeit, Vorstrafen, besonders umfangreiche Geständnisse oder Strafempfindlichkeit nicht, und im Einzelfall sind die Ansätze deshalb gegebenenfalls anzupassen. Deutlicher kann das Ziel der blossen Empfehlung, die weder einen verpflichtenden Rechtssatz darstellt, noch Anfechtungsobjekt sein kann, nicht umschrieben werden: häufige, vergleichbare Fälle möglichst gleich behandeln (Rechtsgleichheit), aber dem Einzelfall stets Rechnung tragen und damit garantieren, dass auch im Massengeschäft das Ergebnis der Beweisaufnahme gewürdigt und das Urteil nach der freien, aus der Verhandlung und den Akten gewonnenen Überzeugung gefällt wird. Dieses richtige und gerechte, aus Dispositiv und Begründung bestehende Urteil ist der individuell-konkrete Anfechtungsgegenstand.
Andere, bereits sehr alte, aber sehr taugliche Empfehlungen finden sich weiter bei der Konferenz der Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz der Schweiz (KKJPD), die zwischenzeitlich von der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz (SSK) zu übernehmen waren. Grundlage dieser Empfehlungen war, dass die damalige Kommission «Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität» (OK/WK) der KKJPD vor über 20 Jahren festgestellt hat, dass bei der Verfolgung von hochkomplexen Wirtschaftskriminalitätsfällen fachspezifische Vorgehensweisen definiert werden mussten, da die unterschiedlichsten Praxen der damaligen Untersuchungsrichter namentlich bei Finanzermittlungen zu erheblichem Unmut führten. So entstanden etwa die Empfehlungen über die Standartfristen bei Bankeditionen oder das Dreistufenmodell, das im Lichte des Beschleunigungsgebotes die Bedürfnisse der Strafverfolgung und die machbare Abwicklung von umfangreichen Kontounterlageneditionen verband, die Empfehlung betreffend zentrale Zustellung von Editionsverfügungen an die Muttergesellschaft oder die Empfehlung für die Anlage gesperrter Vermögenswerte zur Vermeidung wirtschaftlicher Schäden.
Und so entstand eben letztlich auch die in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit geratene Empfehlung der SSK, die sich zum Ziel gesetzt hat, «die Rechtsstaatlichkeit und die Rechtssicherheit gesamtschweizerisch zu fördern und auf eine einheitliche Rechtsanwendung hinzuwirken, weiter namentlich die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden der Kantone und des Bundes bzw. den Meinungsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Kantone untereinander und mit denjenigen des Bundes sowie die Koordination und Durchsetzung gemeinsamer Interessen zu fördern.» (https://www.ssk-cps.ch/). Dieser Zielsetzung ist zu entnehmen, dass hier keine Grauzone beackert wird und in keiner Art und Weise autoritär Vorgaben gemacht werden, wodurch allenfalls sogar vorsätzlich oder eventualvorsätzlich eine gesetzesähnliche Bindungswirkung entstehen sollte.
Einer Konferenz, einem Verein oder einer Interessengemeinschaft kommen klarerweise keine gesetzgeberischen Funktionen zu. Die hingegen den obersten Vertreterinnen und Vertretern der schweizerischen Staatsanwaltschaften zukommenden Kompetenzen, Verwaltungsverordnungen zu erlassen, erschöpfen sich in der StPO, in deren jeweiligen kantonalen Delegationsnormen und den daraus fliessenden Befugnissen. Diese fachliche und organisatorische Tätigkeit findet an der Kantonsgrenze indessen ihr Ende und läuft Gefahr, dass im Lichte der komplexen, eigentlich eidgenössisch geregelten Rechtsanwendung kantonale Praxen Platz greifen, die – und dort liegt das Problem – mit Blick auf die übergeordneten Ziele des Gesetzgebers nachteilig sind, was es zu verhindern gilt.
Der fachliche, praxisbezogene und interkantonale Auftrag, die sich aus der organisatorischen Diversität unseres Landes und aus den unterschiedlichen Mentalitäten ergebenden Unterschiede in der Rechtsanwendung zu mindern, ist zwingend notwendig, und dessen Erfüllung optimiert letztlich die Qualität der Strafverfolgung in unserem Land und macht sie glaubwürdig. Es geht um die Anwendung des Strafrechts in der Praxis, die Umsetzung durch den Staat an die Rechtsbetroffenen, seien diese Täter, Opfer, Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständige oder Zuschauer. Es war daher vor rund 25 Jahren eine wegleitende Idee, die SSK – damals noch die Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz (KSBS) – zu gründen. Wenngleich ihre Mittel beschränkt sind, ihre Werkzeuge nur der gute Rat sein können bzw. sein dürfen, somit die Konferenz keinerlei Weisungsbefugnis besitzt, spielen ihre durch Mehrheitsbeschluss verabschiedeten Empfehlungen heute eine wichtige und richtige Rolle. Es wird ihnen grossmehrheitlich auch nachgelebt, was als Gewinn angesehen werden darf.
Es ist jedem Kanton und jedem Staatsanwalt, jeder Staatsanwältin bewusst, dass es sich dabei um nicht mehr als eine sogar ausdrücklich so in den Ingressen betitelte Arbeitshilfe handelt, die einerseits seine oder ihre tägliche Arbeit erleichtert und andererseits der möglichst einheitlichen Rechtsanwendung zudient. Die Wirklichkeit ist – neben vereinzelten hochbrisanten politischen Themen – ziemlich unspektakulär und irgendwo «schrecklich unbestritten».
Es ist gut, wenn ein mit Fachexpertinnen und -experten erarbeiteter Fragenkatalog für die Erstellung psychiatrischer Gutachten zur Verfügung gestellt wird, Strafzumessungsempfehlungen für Massendelikte vorhanden sind, das Gerichtsstandswesen als Dauerkonfliktthema durch klare Lösungsskizzen entschärft wird, wenn empfohlen wird, wie das komplexe Thema der Einsichtnahme in Strafbefehle und Einstellungsverfügungen bestmöglich gehandhabt wird, oder wenn aufgezeigt wird, wie die elektronische Edition von Bankunterlagen in nationalen oder internationalen Verfahren effizient angegangen werden kann. Es sind weder Gefahren im grauen Nebel oder gar ein Ärgernis, das sogar politisch heikel sein könnte, auszumachen. Vielmehr bleibt einzig der einfache, praktische und unbestrittene Nutzen im Sinne der eingangs erwähnten allgemeinen Rechtsgrundsätze und der Anforderungen an die moderne, anspruchsvolle Strafverfolgung übrig.
Die rechtlichen Anwendungsschwierigkeiten der gesetzlichen Umsetzung von Artikel 121 Absätze 3–6 der Bundesverfassung (SR 101) über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer (Art. 66abis des Strafgesetzbuchs; SR 311.0) sind gerichtsnotorisch. Dass hier Empfehlungsbedarf besteht, dürfte unbestritten sein, weil es um höchst komplexe Sachverhalte mit einer im Strafrecht immer wieder aufscheinenden grossen menschlichen Tragweite unter Berücksichtigung des individuellen Charakters eines jeden Verfahrens geht. Strafrecht dreht sich um Menschen. Unschwer ist nachvollziehbar, dass es einer SSK schlecht anstünde, unwillig zu sein, einen gesetzgeberischen Willen nicht umzusetzen. Wie erörtert, könnte sie das institutionell schon gar nicht. Es geht vielmehr darum sicherzustellen, dass ein gesetzgeberischer Wille – ungeachtet ob man dies gut findet oder nicht, da ein Werturteil über eine Norm oder eine Verweigerung ihrer Anwendung dem Strafverfolger schlicht nicht zusteht – bestmöglich, was eben einheitlich und juristisch korrekt heisst, umgesetzt wird.
Die bestehenden Empfehlungen in der Strafrechtspflege, die im Kanton Bern sogar ein Gemeinschaftsprodukt der Richter- und der Staatsanwaltschaft sind, sind alles andere als unzulässig oder gar ein Ärgernis. Unlautere oder nur schon gräuliche Absichten sind keine auszumachen. Diese Empfehlungen sind – wie interkantonale Vereinigungen und Konferenzen – absolut notwendig; sie schlagen Brücken und helfen mit Rat und Tat, einen der sehr raren Nachteile unseres föderalistischen Systems zu beseitigen, ohne im Widerspruch zur geltenden Rechtsordnung zu stehen. Dogmatische Diskussionen und Verbesserungen dürfen und müssen immer erlaubt sein: Wenn das Beispiel Landesverweisung weiter bemüht wird, kann mit Fug die interessante Frage diskutiert werden, ob neben dem unzutreffenden Ansatz «Staatsanwalt statt Gericht» eine Härtefallklauselprüfung im Strafbefehlsverfahren Platz finden kann oder ob die grammatikalische Auslegung der Norm genügen kann, um dies zu verneinen.
Strafrecht ist lebendig, die funktionierende, qualitativ hochstehende Justiz eine Säule unseres Staates, so wie der Respekt vor den Institutionen es auch ist. Die tägliche Arbeit ist anspruchsvoll und packend, Langeweile gibt es nicht. Tragen wir aber mit Blick auf das Ausland Sorge zu dem, was wir in unserem Land selbstverständlich als guten Standard anerkennen und fordern, und auf den wir uns in aller Rechtssicherheit verlassen dürfen.
Michel-André Fels, Fürsprecher, Generalstaatsanwalt des Kantons Bern, Bern, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz und Lehrbeauftragter an der Universität Luzern. E-Mail: michel-andre.fels@justice.be.ch.