Das hier aus einer rechtsetzungspraktischen Perspektive heraus zu besprechende Handbuch ist in der von Ekkehard Felder und Andreas Gardt im de Gruyter Verlag, Berlin, herausgegebenen Reihe «Handbücher Sprachwissen» als Nummer 12 erschienen. Die Reihe enthält weitere – zumindest den Titeln nach zu schliessen – für die Rechtsetzungspraxis interessante Themen wie: «Sprache in Organisationen» oder «Sprache in Politik und Gesellschaft». Diesem editorischen Kontext ist wohl die mehrdeutige Titelwahl «Sprache im Recht» zu verdanken. Was sollen sich die Rechtswissen-Schaffenden als eine der Zielgruppen des Handbuchs unter der «im» Recht verorteten Sprache vorstellen? Lässt sich Sprache im «Behälter» Recht einsperren? Warum nicht: Recht «aus» Sprache? Oder: Recht «dank» Sprache? Oder kurz: «Handbuch Rechtssprache»? Für jede dieser – sprachspielerisch hergestellten – Wortverbindungen liessen sich im Handbuch Belege finden.
Das Handbuch soll eine «Einführung in Theorie, Empirie und Methodologie der Rechtslinguistik» sein (Klappentext). Es geht in ihm um «Wissen über Rechtssprache bzw. Rechtskommunikation». Die Versprachlichung des Rechts würde «Rechts- und Gerechtigkeitsauffassungen durch Sprache verhandel- und kontrollierbar» machen (IX). Zu diesem Sprechen und Schreiben über Rechtssprache lädt das Handbuch «Sprach-, Rechts- und Sozialwissenschaftler» ein und versammelt dazu 27 Beiträge, gegliedert in sieben thematische Teile. Die den Beiträgen vorangestellte Einleitung der beiden Herausgeber fasst jeden einzelnen davon kurz zusammen (IX–XIX). Erste Spuren, in welche Richtung das Gespräch über Rechtssprache geführt werden könnte, sind damit gelegt. Für die eilige Leserschaft mag dies bereits ausreichen. Sie kann das Buch nach 10 Seiten getrost weglegen oder stattdessen zunächst noch das jedem Beitrag vorangestellte «Abstract» lesen oder dann noch den ebenfalls als Einleitung zu bezeichnenden Beitrag von Friedemann Vogel studieren: «Rechtslinguistik: Bestimmung einer Fachrichtung» (209–232), bevor sie das Buch endgültig weglegt. Sie kann dank der guten Erschliessung des Handbuchs den Gesprächsfaden, auch zu weiterführender Literatur, dann aber jederzeit und grundsätzlich an jeder Stelle wieder aufnehmen. Daran ändert auch das Fehlen eines Autorenverzeichnisses nichts, zumal die mit einem solchen Verzeichnis üblicherweise zum Ausdruck gebrachte Eminenz ein zusätzliches Gefälle zwischen Schreiber und Leser schafft, das das Gespräch eher hemmen als fördern kann.
Inhaltlich dreht sich in dem Handbuch vieles um «Gefälle», um Hürden oder um Hindernisse. Auf diesen Aspekt macht besonders der Betrag von Jan Engberg unter dem Titel «Fachkommunikation und fachexterne Kommunikation» aufmerksam (118–137). Er unterscheidet fachinterne und fachexterne Kommunikation anhand des Begriffs des «Kenntnissystems» und der Art, wie Kommunikation darauf Bezug nimmt. Fachinterne Kommunikation ist selbstbezüglich (reflexiv) und dient dazu, das fachliche Kenntnissystem zu erhalten beziehungsweise zu entwickeln, während fachexterne Kommunikation darauf zielt, fachliche Kenntnisse ausserhalb der Fachgemeinschaft zu vermitteln und dabei auf geringere Kenntnisse beim empfangenden Adressaten trifft. Diese «Experten-Laien-Kommunikation» bezüglich Recht sei einerseits «informations-orientiert» und andererseits «verhaltensbeeinflussend», indem z. B. der Empfänger befähigt wird, politische Entscheidungen zu treffen oder «Kontrolle über die Ausübung des eigenen Rechts» zu haben. Für eine interdisziplinär operierende Rechtsetzung scheint mir die kommunikative Vermittlung beziehungsweise der Ausgleich zwischen den verschiedenen Kenntnissystemen der beteiligten Fachleute, Juristinnen und Politiker eine ständige Herausforderung zu sein, wenn den geschaffenen Normtexten die erwünschte Bedeutung (oder besser: Wirkung) zukommen soll.
Den Zusammenhang von Kenntnissystemen und der Bedeutung der Wörter zeigt auch Dietrich Busse in seinem lesenswerten Beitrag «Semantik des Rechts: Bedeutungstheorien und deren Relevanz» (22–44) auf, wenn auch mit dem anderen Begriff des «Wissensrahmens». «Wörter (in Sätzen, Texten) evozieren Wissen» (36). Neben der Wissensrahmen-Semantik diskutiert Busse die Angemessenheit verschiedener anderer Bedeutungstheorien und stellt dabei eine gewisse Ignoranz bei den juristischen Auslegungslehren fest; einen Befund, den auch Hans Kudlich in seinem Beitrag «Sprache und Sprachwissenschaft in der juristischen Ausbildung» teilt (155–174). Kudlich beurteilt die juristische Ausbildung allerdings nicht ganz so kritisch, weil sie überraschenderweise (?) in der Praxis zu «funktionieren» scheint. Als Gründe dafür nennt Kudlich einerseits die Diskrepanz zwischen Können und explizitem Wissen des Berufsstandes und andererseits das häufige Abstellen auf den Wortlaut der Normtexte und die Bezugnahme auf Vorentscheidungen, was zu einer «Stabilisierung bestimmter Lesarten» führe. Befunde, die m. E. auch für praktisch tätige Legistinnen und Legisten zutreffen dürften, die mehr und besser «können» als aktiv «wissen». Auch für den politischen Gesetzgeber dürften die Befunde von Interesse sein, zeigen sie doch, wie im Vollzug mit den geschaffenen Normtexten umgegangen wird.
Zu diesem Umgang im Vollzug bzw. bei der sogenannten «Rechtsanwendung» gehört auch die grundsätzliche Frage, wodurch die Normtexte im Vollzug ihre genaue Bedeutung erlangen: Wird ihre Bedeutung bei der Konkretisierung im Einzelfall festgestellt (Rechtsfindung), festgesetzt (Rechtsdezision) oder festgelegt (Entscheidung)? Oder wie lässt sich der Entscheider durch Sprache an das Gesetz binden? Diesen Fragen gehen – ansatzweise – Dieter Stein in seinem Beitrag «Sprachwissenschaftliche Aspekte rechtstheoretischer Ansätze im Überblick» (141–154), dann – spezifischer – Ralph Christensen unter dem Titel «Die Wortlautgrenze» (187–205) und Hanjo Hamann in seiner Darstellung der von Friedrich Müller entwickelten «Strukturierenden Rechtslehre als juristische Sprachtheorie» (175–186) nach. Dieter Stein geht unter Bezugnahme auf die US-amerikanische Rechtstheorie den internen Beziehungen zwischen Sprache und Recht nach: Die «sprachliche Verpackung der Normen» erfordere eine «Übersetzung von einer abstrakten (…) Existenz in eine linearisierte und physisch existierende, als sprachliche Realisierung zu denkende Seinsform» (143). Diese in der Theorie1 als «textualization» bezeichnete Übersetzung beinhalte auch einen Transfer der «performative authority» des gesetzgebenden Autors in den geschriebenen Text. Eine solche Sprachauffassung befördere eine «Fokussierung auf die Wörter des Texts, auf das law in books. Die unsemiotische2 Annahme von «wörtlichen Bedeutungen» habe sprachwissenschaftlich keine Berechtigung, «ausser dass es für die Rechtspraxis operativ günstig und zweckmässig ist, eine solche anzunehmen» (145). Auch Hamann und Christensen stimmen darin überein, dass sich wörtliche Bedeutungen des Gesetzestextes nicht aus vorgegebenen Sprachregeln oder Wörterbüchern3 ableiten bzw. darin entdecken lassen. Viel eher werde rechtliche Bedeutung im praktischen Rechtsstreit um die beste Lesart des Normtexts erst erfunden (Hamann, 174 f.) bzw. durch die auf dem Normtext gegründete und damit begründete Entscheidung vorläufig festgelegt (Christensen, 198 f.).
Der Frage, wie der konkrete, mündlich und schriftlich4 geführte Rechtsstreit aus sprachwissenschaftlicher Sicht abläuft bzw. wie er sich unter Berücksichtigung daran beteiligter Personen und ihrer Äusserungen analysieren lässt, widmen sich die Beiträge von Ekkehard Felder «Pragmatik des Rechts: Rechtshandeln mit und in Sprache» (45–66), von Ludger Hoffmann «Mündlichkeit im Recht: Kommunikationsformen/Gesprächsarten» (67–90), von Jing Li «Diskurs- und textlinguistische Ansätze im Recht» (233–250) sowie von Ina Pick «Gesprächslinguistik» (251–270). In den gleichen Zusammenhang gehören auch die etwas spezielleren, strafprozessual interessanten Beiträge von Eilika Fobbe «Forensische Linguistik» (271–290), von Mustafa T. Oglakcioglu/Jan C. Schuhr «Verbotene Sprache» (527–546) und von Sabine Ehrhardt «Texte als Straftat und im Straftatkontext» (547–566). Sie zeigen schön auf, wie sich die sprachlichen Aspekte, aber auch die rechtlichen Probleme potenzieren, wenn interpretationsbedürftige und sich verändernde Sprache selbst zum Gegenstand des Rechtsstreits wird, wie z.B. im Beweisrecht (Urkunden; Autoren-Erkennung), bei Äusserungsdelikten oder bei Plagiatsverboten. Sprachwissenschaftliche Analysen von Rechtsstreitigkeiten könnten für «den Gesetzgeber» im Sinne einer Normwirkungskontrolle besonders dann von Interesse sein, wenn sie aufzeigen können, an welchen Normtexten sich die hauptsächlichen, streitbetroffenen «agonalen Zentren» (Jing Li, 238) befinden. Wenn das Rechtssystem gleichsam das Immunsystem der Gesellschaft sein soll (Niklas Luhmann), sollte der Gesetzgeber seinen Beitrag zur Konfliktvermeidung leisten, indem er z. B. häufig umstrittene Normtexte inhaltlich oder sprachlich nachbessert. Interessante Erkenntnisse versprechen dabei auch sprachwissenschaftliche Analysen der rechtlichen Begriffsentwicklung von «sprachlichen Neubildungen bzw. Erstverwendungen bis hin zu musterhaften oder typologisierten Zeichenverwendungen» (vgl. dazu: Felder, 48).
Um «agonale Zentren» kümmern sich gewöhnlich auch die Massenmedien. Ihrer Berichterstattung über das Recht ist der Beitrag von Janine Luth «Rezeption von Gerichtsentscheidungen in der Öffentlichkeit durch Medien» (465–485) gewidmet. Sie interessiert sich darin einerseits für die sprachlichen und bildlichen Einflussmöglichkeiten der Medien auf die Bestimmung des «richtigen» oder «falschen» Sprachgebrauchs (483), andererseits für die «Transformation von Expertendiskursen in die Welt der relativen Laien» (482) – demjenigen Thema, mit dem ich den Streifzug durch das Handbuch begonnen habe.
Bei diesen Transformationsprozessen kommt ein sprachliches Thema besonders zum Tragen, das auch in der Rechtssetzungslehre als ein «agonales Zentrum» bezeichnet werden kann: Die Verständlichkeit. Ihr widmen sich im Handbuch denn auch gleich mehrere Beiträge. Den Beginn machen Gerd Antos/Helge Missal mit «Rechtsverständlichkeit in der Sprachkritik der Öffentlichkeit» (329–346). Direkten Bezug zur Verständlichkeit haben auch die Beiträge von Stephanie Thieme/Gudrun Raff «Verständlichkeit von Gesetzestexten und ihre Optimierung in der Praxis» (391–422), Hans-R. Fluck «Verwaltungssprache und Staat-Bürger-Interaktion» (425–441) und Anke Müller «Verständlichkeit der Verwaltungssprache» (442–461). Antos/Missal bezeichnen Verständlichkeit als «schlecht definiertes Problemfeld (…), das viele, sehr viele unterschiedliche und z. T. je nach Umständen auch wechselnde begriffliche Aspekte umfasst» (334). Wenn von juristischer Seite gegen die demokratierechtlich begründete Forderung einer Allgemeinverständlichkeit die Auslegungsbedürftigkeit des Rechts und damit der Verständnishorizont des Rechtsstabs in Anschlag gebracht werden, ist es nach Antos/Missal fragwürdig, weshalb in den Parlamenten und von Lobbyisten dennoch oft um Gesetzesformulierung gestritten und gefeilscht werde und weshalb der Wortlaut oft direkt in die Entscheide von Verwaltung (und Justiz?) übernommen werde (337). Verständnis- und Verständigungsbarrieren bestünden aber nicht nur zwischen Fachleuten und Laien, sondern auch zwischen den Fachleuten selbst (339). Textoptimierung sei daher «gelegentlich für Juristen selbst» wünschenswert (337). Auch für Thieme/Raff, die in ihrem Beitrag über die Arbeit des «Redaktionsstabs Rechtssprache» beim deutschen Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz berichten, ist der Umstand, dass Verständlichkeit kein absoluter, sondern von der rezipierenden Person abhängiger, relativer Begriff ist, kein Hindernisgrund, für Textoptimierung zu werben. Denn auch auf Gesetzestexte als Mittel der Kommunikation liessen sich linguistische Kommunikationsregeln der Allgemeinsprache anwenden (400). Erforderlich sei dazu aber die Bereitschaft der beteiligten Fachleute zur «Zusammenarbeit auf Augenhöhe» (420). Wo Verständnishürden zu finden sind und welche Merkmale sie aufweisen, dazu liefern Thieme/Raff (406 ff.) und Fluck (430 ff.) viele auch in der Rechtsetzungslehre geläufige Beispiele (Nominalisierungen, Passiv-Formen usw.). Auch Gründe, weshalb Rechtssprache und Verwaltungssprache schwer verständlich sind, werden viele genannt. Aufhorchen lässt dabei die These von Müller, wonach die Regelungsdichte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung überlaste und diese sich dadurch veranlasst sähen, «sich eng an den gesetzlichen Ausgangstext zu halten, um rechtssicher zu formulieren» (450). Die Unverständlichkeit der Normtexte setzt sich quasi in den Rechtsanwendungsakten fort. Auch wenn Rechtstexte offen, mehrdeutig und daher auslegungsbedürftig sind und nur relativ zu den Wissensstrukturen ihrer Leserschaft verständlich sind, lassen sich die Beiträge zur Verständlichkeit als Plädoyer zur generellen Textoptimierung lesen, und zwar aller staatlichen Texte – seien es Normtexte und die sie begründenden Begleittexte (Botschaften), seien es Verwaltungs- oder Gerichtsentscheide oder seien es nur Formulare (vgl. dazu Fluck, 437).
Wie schwierig Textoptimierung im legistischen Alltag aber ist, davon vermögen all diejenigen ein Lied zu singen, die sich redlich um sprachliche Verbesserung von Normtextentwürfen bemühen. Wie schwierig müssen aber erst Textoptimierungen sein, die es mit verschiedenen Sprachen und ausserdem mit verschiedenen materiellen und formellen Anforderungen an die Zieltexte zu tun bekommen. Von diesen Schwierigkeiten zeugen die Beiträge von Giovanni Rovere «Übersetzen und Dolmetschen im Recht» (310–328), von Rebekka Bratschi/Markus Nussbaumer «Mehrsprachige Rechtsetzung» (367–390), von Karin Luttermann «Multilingualität im europäischen Rechtsdiskurs» (486–505) und von Isabel Schübel-Pfister «Multilingualität in der supranationalen Judikative und Rechtspraxis» (506–524). Rovere demonstriert am Beispiel der Übersetzung vom Deutschen ins Italienische kulturspezifische Übersetzungsprobleme, die er auf der Ebene der Wörter (Lexik) und der Textsorten ansiedelt (312 ff. und 317 ff.). Einer radikalen Auffassung der prinzipiellen Nicht-Übersetzbarkeit setzt Rovere ein pragmatisches «Postulat der prinzipiellen Übersetzbarkeit» (317) gegenüber: «Die Qualität der Übersetzung misst sich nicht am Äquivalenzgrad der zielsprachlichen Entsprechungen (…), sondern an der Adäquatheit der gewählten sprachlichen Mittel im Verhältnis zum jeweiligen Übersetzungszweck» (315). Er unterscheidet dabei zwischen informativen und performativen Texttypen (318); eine Unterscheidung, die auch für die Texte in der Rechtsetzung von Bedeutung ist. Normtexte fasst er dabei als performative Texte auf, da sie Rechtswirkungen erzielen sollen.
Wie ist aber mit der Situation umzugehen, wenn Normtexte von einer Arbeitssprache in eine oder mehrere andere Amts- oder Landessprachen übersetzt werden müssen, die rechtlichen Anspruch auf inhaltliche (und formale) Gleichwertigkeit besitzen sollen, wie dies in der Schweiz, der EU und offenbar auch in Kanada der Fall ist? Bratschi/Nussbaumer beschreiben dazu unterschiedliche Verfahren: a) Koredaktion beziehungsweise gemischtsprachliche Redaktion, b) Korevision, c) blosse Übersetzungen und d) Mischformen (371–375) und weisen auch auf die Konsequenzen der Mehrsprachigkeit auf die Arbeitsteilung hin (375 f.). In ihrer Würdigung der verschiedenen Verfahren sprechen sich Bratschi/Nussbaumer – meines Erachtens überzeugend – für eine prozessual früh einsetzende Erstellung der verschiedenen Sprachversionen aus (Koredaktion oder Korevision; 380 f.). Der dadurch entstehende «Wettbewerb um die «beste» Formulierung» (386) fördere einerseits die sprachliche Qualität der Gesetzgebung und andererseits den besseren Einbezug der entsprechenden Sprachgemeinschaft in den Rechtssetzungsprozess (380). Dieser Wettbewerbsgedanke sollte nach meinem Dafürhalten nicht nur mehrsprachigen Gemeinwesen vorbehalten bleiben. Er lässt sich auch in einsprachigen Rechtssystemen anwenden, und zwar nicht erst in der Entwurfsphase mit Alternativentwürfen, sondern bereits in den früheren Phasen der Rechtsetzung, wo die «textualization» der politischen Ideen ihren Anfang nimmt: Warum nicht ein «Wettbewerb der Konzepte»?
Normative Konzepte und ihre Vertextung gehören in die genuin rechtsetzerischen Phasen des Rechtsverwirklichungsprozesses5. Deswegen ist der Beitrag von Friedemann Vogel «Sprache im Gesetzgebungsverfahren und der Normgenese» (349–366) sicher von besonderem Interesse. Der Beitrag beginnt mit einer kritischen Analyse der bisherigen Forschung zur Rolle der Sprache für die Genese rechtlicher Normen. Vernachlässigung des Themas, kaum Empirie, methodische Probleme und das Fehlen einer geschlossenen Theorie zeichnen seiner Meinung nach den blinden Fleck der bisherigen Forschung aus. Einzig der Schweiz attestiert er im Kontext der Gesetzesredaktion eine langjährige Tradition mit der Sprache als Gegenstand der Wissenschaft (349 f.). Dies mag vielleicht auch der Grund sein, dass ich als Rezensent in der gelobten schweizerischen Zeitschrift den Stand der Wissenschaft nicht so negativ beurteile wie Vogel. Ich kann ihm auch nicht folgen in seinem Bestreben, eine «rechtslinguistische Gesetzgebungslehre» zu entwickeln (350 und 364 f.). Ob nun normative Lehre oder empirische Wissenschaft, Rechtsetzung ist in der Praxis eine vielstimmige, multidisziplinäre und teilweise «agonale» Angelegenheit. Wenn die Rechtslinguistik empirische Erkenntnisse und Theorieelemente dazu liefert, umso besser. Zumindest in der Schweiz wird zu den Rechtsetzungsverfahren beim Bund und in den Kantonen sehr viel Text publiziert, der nur darauf wartet, computergestützt mit «korpuslinguistischer Spezialsoftware» ausgewertet zu werden, so wie es offenbar Vogel selbst am Beispiel der polizeilichen Online-Durchsuchung in Deutschland getan hat (223) – die Zusammenfassung dieser dabei entstandenen Fallstudie ist auf jeden Fall lesenswert (359–364). Interessanter als seine wohl eher forschungspolitisch begründeten Analysen des Forschungsstands sind aber Vogels Beobachtungen von Gesetzgebung und Normgenese (352–354 und 357–359). So machen sicher die Unterscheidungen zwischen Ausdrucks- und Konzeptebene sowie zwischen Normtextgenese und Normgenese grossen Sinn. In der Rechtsetzungsmethodik lässt sie sich an der Unterscheidung zwischen Entwurf und Normkonzept festmachen. Normtextgenese findet mit der Publikation ihr vorläufiges Ende, während Normgenese in der «Rechtskonkretisierung» weitergeht (352). Heuristisch hilfreich ist es auch, wenn Vogel diese genetischen Prozesse vor dem kontextuellen und sich verändernden Hintergrund von «Lebenswelt», «Normwelt» und «Textwelt» ablaufen sieht (352 f.) und verschiedene Kommunikationsbereiche am Vertextungsprozess beteiligt betrachtet: Exekutive, Legislative, Judikative, Wissenschaften, Medien (353 f.). Er spricht wohl zu Recht von einer «Mehrfachautorschaft» (354). Die weiteren Ausführungen zu den zu differenzierenden Stufen der Vertextung (357–359) lesen sich wie eine in die linguistische Fachsprache übersetzte Zusammenfassung des Ablaufs einer Konzeptphase in der Rechtsetzungsmethodik. Am Schluss erfolge «über die verschiedenen formellen Instanzen und Gremien hinweg die Verdichtung oder normweltliche Adelung des Normtextentwurfs zum Normtext» (Hervorhebung im Original, 359). Eine schöne Beschreibung für einen profanen Prozess in einer unadeligen Demokratie.
Das mit «Adelung» bei mir hervorgerufene Bild führt mich am Ende meines Streifzuges durch das insgesamt mit Gewinn zu lesende Handbuch noch zu seinen Lücken oder meinen enttäuschten Erwartungen. Vermisst habe ich vor allem das Thema «Metaphern im Recht und in der Linguistik» und die damit verbundene Verschränkung der Textwelt mit der Bilderwelt. Vielleicht ist dies aber gar kein linguistisches Thema und die Enttäuschung nur meinem beschränkten Wissen zuzuschreiben. Das Handbuch wird aber seinem Anspruch der Wissensvermittlung trotzdem gerecht. Ob es aber «den enormen Einfluss der Rechtsprache für den Laien transparent» machen wird, wie es die Produktinformation des Verlags verspricht, mag angesichts des stolzen Kaufpreises eher zweifelhaft bleiben.
Roland Gerne, Kompetenzzentrum Rechtsetzung, Rechtsdienst des Regierungsrats des Kantons Aargau.
- 1 Die Theorie nennt sich «Textualismus» und betrifft das Verhältnis zwischen «Gesetzgeber» und «Richter». Wer sich dafür näher interessiert oder sich aktuell für die Veröffentlichung von Materialien einsetzt, der lese nebst den Beiträgen im besprochenen Handbuch auch: Hamann, Hanjo, 2017, Text, Kontext und Textualismus in der juristischen Methodenlehre, und Christensen, Ralph, 2017, Textualismus oder Wo bleibt der Wille des Gesetzgebers, beide in: Vogel, Friedemann (Hrsg.), 2017, Recht ist kein Text – Studien zur Sprachlosigkeit im verfassten Rechtsstaat, Duncker&Humblot: Berlin, S. 135–150 bzw. 151–173.
- 2 Zur Zeichentheorie (Semiotik) vgl. den grundlegenden Handbuchbeitrag von Thomas-Michael Seibert: «Semiotik im Recht» (3–21).
- 3 Zur Bedeutung von Wörterbüchern vgl. den Handbuchbeitrag von Andreas Deutsch: «Kommentare, einsprachige Wörterbücher und Lexika des Rechts» (291–309).
- 4 Zur Verschriftlichung des Rechts vgl. den Handbuchbeitrag von Andreas Deutsch: «Schriftlichkeit im Recht: Kommunikationsformen und Textsorten» (91–117).
- 5 Verschiedene Literaturverzeichnisse des Handbuchs erwähnen das Werk: Friedrich Müller/ Ralph Christensen, 2013, Juristische Methodik, Band I, Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 11. Auflage, Berlin: Duncker & Humblot. Darin wird der «Kreislauf der Rechtsverwirklichung» mit folgenden Elementen umschrieben: rechtspolitische Debatte, Normtextvorbereitung, Normtextsetzung, Setzung der Rechtsnorm in der konkreten Entscheidung (Einzelfallkonkretisierung), Umsetzung der Entscheidungsnorm (Vollstreckung), Normkontrolle, erneute rechtspolitische Debatte, gegebenenfalls Normrevision, vgl. a.a.O., Rn. 158, S. 182.