Inhaltsverzeichnis
Unternehmen haben sich an immer mehr Pflichten des Verwaltungsrechts zu halten. Zur Durchsetzung dieser Pflichten gibt es Verwaltungssanktionen, die von Verwaltungsbehörden ausgesprochen werden können. Im Zentrum von Diskussionen stehen aufgrund ihrer hohen Geldbeträge die pekuniären Sanktionen im Kartellrecht (KG).1 Gemäss Statistiken der Wettbewerbskommission (WEKO) wurden seit der Einführung der verschärften Sanktionsmöglichkeiten im Jahre 2004 insgesamt gegen rund 130 Unternehmen Verfahren geführt und Sanktionen in der Höhe von ca. einer Milliarde CHF gesprochen.2 Der vorliegende Beitrag bietet einen ausgewählten Einblick zum Verhältnis zwischen diesen Verwaltungssanktionen und den strafprozessualen Verfahrensgarantien. Anstoss gab das 29. Forum für Rechtsetzung3 vom Februar 2017, das vorwiegend diesem Thema gewidmet war. Die spannenden Beiträge von Maya Beeler-Sigron (Bundesamt für Justiz, Fachbereich Internationaler Menschenrechtsschutz), Marc Frédéric Schäfer (Wettbewerbskommission, Dienst Infrastruktur) und Klaus Schneider (Bundesamt für Justiz, Fachbereich Straf- und Strafprozessrecht) sowie die anschliessende Diskussion zeigten, dass das Verhältnis zwischen Strafrecht und pekuniären Verwaltungssanktionen grundsätzliche Fragen aufwirft, insbesondere dass die Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Pflichten im ständigen Spannungsverhältnis zu den strafrechtlichen Verfahrensgarantien steht.4
Die Art. 49a und 50 Kartellgesetz (KG) sehen für den Verstoss gegen verbotene Verhaltensweisen (Art. 5 KG zu horizontalen und vertikalen Abreden sowie Art. 7 KG zur marktbeherrschenden Stellung) Sanktionsmöglichkeiten vor. Die als «Verwaltungssanktionen» betitelten Sanktionen richten sich gegen Unternehmen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 bis KG. Zudem gibt es als «Strafsanktionen» betitelte Sanktionen, die gemäss Wortlaut auf natürliche Personen anwendbar sind. In Einzelfällen (Bagatellfällen) und bis zu einem Betrag von höchstens CHF 5’000 können gestützt auf Art. 7 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht (VstrR) jedoch auch Unternehmen zur Bezahlung von Bussen gemäss KG verurteilt werden (vgl. Riedo/Niggli 2010, Art. 54 N 21).
Vorliegend im Vordergrund steht der im KG als Verwaltungssanktion betitelte und im Jahre 2004 in Kraft getretene Art. 49a KG. Darauf gestützt kann die WEKO Sanktionen in Höhe von bis zu 10 Prozent des in der Schweiz erzielten Umsatzes der vorangegangenen drei Geschäftsjahre aussprechen. Art. 49a Abs. 2 KG sieht indessen in Anlehnung an ausländische Rechtsordnungen eine Bonusregelung vor. Diese ermöglicht es der WEKO, gegenüber Unternehmen, die als Kartellmitglieder an der Aufdeckung und Beseitigung des betreffenden Kartells mitwirken, auf direkte Sanktionen ganz oder teilweise zu verzichten. So kann die WEKO unzulässige Verhaltensweisen aufdecken, sind doch namentlich Informationen zu Abreden zwischen Marktteilnehmern schwer zu erhalten (Niggli/Riedo 2013, Rz. 59 m.w.H.).
Die Verwaltungssanktionen nach den Art. 50–52 KG und die Strafsanktionen nach den Art. 54–57 KG (zur Unterscheidung siehe Niggli/Riedo 2010, vor Art. 49a-53 KG, N 1 ff.) bezwecken primär, Widerhandlungen gegen behördliche Anordnungen in kartellrechtlichen Verfahren zu sanktionieren (Niggli/Riedo 2013, Rz. 8).
Die WEKO konnte vor der Einführung der direkten Sanktionen im Jahr 2004 lediglich Sanktionen aussprechen, wenn eine von der WEKO untersagte Abrede oder eine missbräuchliche Verhaltensweise weiter praktiziert wurde. Hauptziel der Änderung des KG im Jahre 2002 war die Einführung der direkten Sanktionen. In der Botschaft wurde ausgeführt, dass sich das damals geltende KG zwar über weite Strecken bewährt habe. Die Anwendung des Gesetzes habe jedoch deutlich gemacht, dass seine Wirksamkeit beschränkt war, da wettbewerbsbeschränkendes Verhalten nicht direkt sanktioniert werden konnte. Auf internationaler Ebene wurde die Bekämpfung von wettbewerbswidrigen Praktiken verschärft. Andere Wettbewerbsbehörden konnten in den für die Schweiz bedeutendsten Märkten (EU, USA, Deutschland) bei unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen bereits direkt Geldbussen verhängen (BBl 2002 2022, 2027). Weiter wurde in der Botschaft erläutert, dass bei der Verwaltungssanktion – im Gegensatz zu einer Strafsanktion – kein Verschulden vorausgesetzt werde, d.h. sie könne ohne Nachweis eines strafrechtlich vorwerfbaren Verhaltens einer natürlichen Person verhängt werden. Dies vor dem Hintergrund, dass Unternehmen selbst nach herrschender Lehre als juristische Personen nicht deliktsfähig seien, weil ihnen (strafrechtlich) keine subjektive Schuld zugewiesen werden könne. Andere subjektive Elemente (wie z. B. die Rolle, die ein Kartellmitglied im Rahmen eines Kartells gespielt hat, die Kooperationsbereitschaft etc.) könnten bei der Beurteilung der Schwere der kartellrechtlichen Verstössen berücksichtigt werden und damit mit den objektiven Kriterien in die Bemessung der Sanktion einfliessen (BBl 2002 2022, 2034).
Man könnte sich die Frage stellen, ob pekuniäre Verwaltungssanktionen heute noch erforderlich sind, kennt doch das Strafrecht seit dem Jahre 2003 mit Art. 102 im Schweizerischen Strafgesetzbuch (StGB) eine Regelung zur Strafbarkeit von Unternehmen. In der Botschaft wurde die Einführung von Art. 102 StGB damit begründet, dass vor allem unter dem Eindruck der an Bedeutung gewonnenen organisierten Kriminalität Ende der Achtzigerjahre der Ruf nach einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen laut geworden sei. Lange Zeit habe als allgemein anerkannt gegolten, dass allein natürliche Personen straffähig seien, da nur sie schuldhaft handeln könnten. Dies zu bestimmen könne besonders in komplex strukturierten Unternehmen schwierig oder gar unmöglich sein, und die alleinige Bestrafung einer natürlichen Person könne im Einzelfall unbillig sein, da damit nur ein Teil des fehlerhaften Verhaltens strafrechtlich sanktioniert werde. Zudem wird in der Botschaft auf die damaligen Tendenzen der Strafbarkeit von Unternehmen im europäischen Ausland am Beispiel Frankreichs sowie die Strafbarkeit von Unternehmen im angloamerikanischen Rechtsraum hingewiesen. Betreffend das europäische Recht wird der sogenannte «Code des sanctions administratives» (Verordnung 2988/95 vom 18. Dez. 1995) erwähnt, ein «…trotz seines Namens im Grunde strafrechtlicher Erlass…» (BBl 1999 II 1979 ff., Ziff. 217.11).
Seit der Revision kann ein Unternehmen nach Art. 102 StGB strafrechtlich belangt werden, wenn aufgrund mangelnder Organisation im Unternehmen die Person, die für eine in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks begangene Straftat (sog. «Anlasstat») verantwortlich ist, nicht eruiert werden kann. Die Strafbarkeit einer natürlichen Person schliesst in dieser Konstellation die Strafbarkeit des Unternehmens aus (sog. «subsidiäre Strafbarkeit»). Abs. 2 sieht hingegen eine von der Strafbarkeit natürlicher Personen unabhängige sog. «kumulative Strafbarkeit» des Unternehmens vor. Diese bezieht sich jedoch ausschliesslich auf einen eng gefassten Katalog von Straftaten (u. a. Geldwäscherei und Bestechung) und greift nur, sofern das Unternehmen die erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren zur Verhinderung solcher Straftaten unterlassen hat.
Die Unternehmensstrafbarkeit ist keine Kausal- oder Gefährdungshaftung,5 sondern verlangt ein spezifisches, dem Unternehmen zugerechnetes Verschulden der Organe, das in einer mangelhaften Organisation besteht. Mit dem Organisationsverschulden soll gemäss den Ausführungen in der Botschaft ein «zeitgemäss umgedeutetes Schuldprinzip» gewahrt werden können (BBl 1999 II 1979, Ziff. 217.3). Dieses Organisationsverschulden tritt zur tatbestandsmässig und rechtswidrig verübten Anlasstat hinzu. Sofern die Anlasstat nicht in den Katalog von Abs. 2 fällt, ist nach Abs. 1 das Unternehmen nur subsidiär strafbar, dafür aber allgemein bei Verbrechen und Vergehen. Das Unternehmen wird diesfalls nur dann bestraft, wenn keine natürliche Person als Täterschaft ermittelt werden kann. In BGE 142 IV 333, 337, führt das Bundesgericht aus, dass bei beiden Varianten von Art. 102 StGB eine Anlasstat inkl. der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale nachgewiesen werden muss. Im Entscheid offen gelassen werden konnte die Frage, wie die Anlasstat – und hier insbesondere die subjektiven Elemente – bewiesen werden können, wenn die Täterschaft nicht auffindbar ist (siehe dazu Vasella 2018, 55, und die dogmatischen Ausführungen zur «generellen Anlasstäterschaft» und zur «additiv verwirklichten Anlasstat» in Niggli/Gfeller 2013, Art. 102 N 57 ff.). Art. 102 StGB stellt die rechtsanwendenden Behörden und sämtliche am Sachverhalt beteiligten Personen auch diesbezüglich vor praktische Schwierigkeiten.
Art. 102 StGB verfolgt zwei unterschiedliche Zwecke: Abs. 1 ist in der Sache ein Rechtspflegedelikt, denn er pönalisiert einen personalen Organisationsmangel im Unternehmen, der den Strafverfolgungsbehörden die Ermittlung der Anlasstäterschaft verunmöglicht (Niggli/Gfeller, a.a.O., N 52 f.). Abs. 2 pönalisiert demgegenüber die Verletzung einer bestimmten Straftatverhinderungspflicht des Unternehmens (Niggli/Gfeller, a.a.O, N 244 f.). Andererseits pönalisieren Verwaltungssanktionen ein bestimmtes Verhalten nicht unter Schuldgesichtspunkten, sondern dienen primär der Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Pflichten.
Zudem unterscheidet sich das anwendbare Verfahrensrecht: Während die Strafverfolgungsbehörden in einem Verfahren wegen Verletzung von Art. 102 StGB die Strafprozessordnung anwenden, werden Verwaltungssanktionen von den Verwaltungsbehörden im Verwaltungsverfahren verhängt, wobei die strafprozessualen Verfahrensgrundsätze punktuell zu beachten sind (dazu unten Ziff. 4). Aufgrund der genannten Besonderheiten kann nur schwer argumentiert werden, dass seit Einführung der Strafbarkeit von Unternehmen nach Art. 102 StGB Verwaltungssanktionen nicht mehr erforderlich seien.
Verwaltungssanktionen können die Betroffenen in ihren Rechten stark berühren. Die allgemeinen Verfahrensgarantien, wie das Verhältnismässigkeitsprinzip, das Legalitätsprinzip, das Rechtsgleichheitsgebot, das Willkürverbot, das Diskriminierungsverbot, die Verfahrensgarantien nach Bundesverfassung (BV) und die einschlägigen Verfahrensrechte der EMRK gelten für sämtliche Arten von Verwaltungssanktionen (weiterführend Locher 2013, 236 ff. m.w.H.). Der vorliegende Aufsatz befasst sich wie erwähnt mit den anwendbaren strafprozessualen Garantien. Im Unterschied zu den allgemeinen Verfahrensgarantien reichen die Garantien im Strafverfahren weiter. Diese konstituieren einen wichtigen Rahmen, innerhalb dessen sich Verwaltungssanktionen mit Strafcharakter bewegen müssen.
Art. 6 EMRK ist die Vorschrift mit der grössten praktischen Bedeutung (Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 1). Zudem sind auch Art. 7 EMRK und die Art. 2 und 4 des Zusatzprotokolls (ZP) Nr. 7 zur EMRK relevant.
Die Rechte gemäss Art. 6 EMRK gelten für sämtliche juristischen und natürlichen Personen in gerichtlichen Verfahren, in Strafsachen einschliesslich der Voruntersuchung. Besondere Statusverhältnisse, etwa die öffentlich-rechtliche Anstellung, können jedoch die Anwendbarkeit relativieren (Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 4 ff. m.w.H.). Der EGMR legt die Begriffe der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen sowie der strafrechtlichen Anklage autonom aus (Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 5).
Die strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK setzt keine formelle Anklage voraus. Die strafrechtlichen Garantien gelten gemäss EGMR bereits ab der amtlichen Benachrichtigung der betroffenen Person (z. B. bei ihrer Verhaftung oder anlässlich der Anhebung des Untersuchungsverfahrens) oder ab der sonstigen Kenntnisnahme aufgrund von Massnahmen, die eine Beschuldigung implizieren und welche die betroffene Person ähnlich nachhaltig in ihrer Rechtsposition beeinträchtigen (vgl. Meyer, EMRK Kommentar 2015, Art. 6 N 35 m.w.H.). Für die Qualifizierung des strafrechtlichen Charakters wendet der EGMR die sogenannten Engel-Kriterien an (EGMR-Urteil Engel gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Nr. 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72 und 5370/72, Serie A22, Ziff. 80 ff.). Diese gelten alternativ und umfassen:
- Die Zuordnung der Tat nach nationalem Recht: Falls diese nach nationalem Recht in den Bereich des Strafrechts fällt, ist Art. 6 EMRK grundsätzlich anwendbar (Engel gegen Niederlande, a.a.O., Ziff. 81).
- Die Natur des Vergehens: Eine strafrechtliche Natur ist anzunehmen, wenn die Vorschrift abschreckende und strafende Zwecke verfolgt und sich nicht an einen besonderen Personenkreis richtet, sondern für jedermann, d.h. generell-abstrakt, verpflichtend ist (vgl. Meyer, EMRK Kommentar 2015, Art. 6 N 25; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 27). Weitere Indikatoren hierfür sind die Schuld als Urteilsvoraussetzung sowie die Verfahrensherrschaft einer öffentlichen Instanz auf gesetzlicher Grundlage (vgl. Meyer, EMRK Kommentar 2015, Art. 6 N 25).
- Die Art und die Schwere der Sanktion: Massgeblich ist die gesetzliche Strafandrohung (Höchststrafe). Zudem spricht die Möglichkeit der Umwandlung der Busse in eine Freiheitsstrafe für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK (EGMR-Urteil, Weber gegen Schweiz vom 22. Mai 1990, Nr. 11034/84, Serie A177, Ziff. 34; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 27).
Die Anwendung der Engel-Kriterien führt zu einer Ausdehnung des Schutzbereichs von Art. 6 EMRK über das Kernstrafrecht (Strafrecht nach StGB) hinaus. Dies hat den EGMR veranlasst, eine qualitative Abstufung vorzunehmen. Nur im Kernstrafrecht greifen die Garantien von Art. 6 EMRK in ihrer vollen Intensität. In den Randbereichen bzw. den strafrechtsähnlichen Bereichen können hingegen Abstriche gemacht werden. Zum strafrechtsähnlichen Bereich gehören Verwaltungssanktionen im Zollrecht, Steuerrecht, Strassenverkehrsrecht und Wettbewerbsrecht bzw. Kartellrecht (EGMR-Urteil, Jussila gegen Finnland vom 23. Nov. 2006, Grosse Kammer, Nr. 73053/01, Reports 2006-XIV, Ziff. 43; Meyer, a.a.O., Art. 6 N. 27a; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 30). Im Kartellrecht ist es beispielsweise zulässig, dass die Sanktionen zunächst durch eine Verwaltungsbehörde (mit Kompetenzbündelung von Untersuchung, Anklageentscheidung und Sanktionierung) verhängt und erst danach durch ein Gericht mit voller Kognition überprüft werden (EGMR-Urteil, Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien vom 27. Sept. 2011, Nr. 43509/08, Ziff. 62). Keine Abstriche werden hingegen beim Schweigerecht von natürlichen Personen gemacht (EGMR-Urteil, Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dez. 1996, Nr. 19187/91, Ziff. 74; vgl. Meyer, EMRK Kommentar 2015, Art. 6 N. 27a).
Im Rahmen des im Strafrecht verstärkt geltenden Gesetzlichkeitsprinzips nach Art. 7 EMRK legt der EGMR den Begriff der Strafe nach den sog. Welch-Kriterien autonom aus (siehe dazu EGMR-Urteil, Welch gegen Vereinigtes Königreich vom 9. Febr. 1995, Nr. 17440/90, Serie A307-A, Ziff. 27 ff.).
Für die nachfolgenden Verfahrensgarantien sind indessen die oben genannten Engel-Kriterien anzuwenden. Dies gilt auch für den in Art. 4 ZP Nr. 7 zur EMRK verankerten Grundsatz ne bis in idem. Nach Abs. 1 darf niemand wegen einer Straftat, aufgrund derer er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden. Ausnahmen davon sind in Abs. 2 genannt. Eine wiederholte Verfolgung (bis) liegt vor, wenn bereits ein rechtskräftiger Entscheid vorliegt. Verhängen diverse Behörden in je eigenen Verfahren wegen der gleichen Sache unterschiedliche Sanktionen (z. B. Führerausweisentzug und strafrechtliche Sanktion wegen Geschwindigkeitsübertretung), so muss ein ausreichender inhaltlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den beiden Sanktionen bestehen, damit keine doppelten Verfahren im Sinne des Grundsatzes ne bis in idem angenommen werden (siehe z. B. EGMR-Urteil Rivard gegen Schweiz vom 4. Okt. 2016, Nr. 21563/12, Ziff. 31 ff.). Betreffend die Verfolgung derselben strafbaren Handlung (idem) ist die Identität der Tatsachen entscheidend, nicht deren rechtliche Qualifikation (siehe z. B. EGMR-Urteil Rivard gegen Schweiz, a.a.O., Ziff. 26). Die Sperrwirkung von Art. 4 ZP Nr. 7 zur EMRK erfasst solche Verfahren nicht, die zu Sanktionen nichtstrafrechtlicher Art führen können, wie etwa gewisse Disziplinarmassnahmen (vgl. z. B. EGMR-Urteil Kurdov und Ivanov gegen Bulgarien vom 31. Mai 2011, Nr. 16137/04, Ziff. 35 ff.).
Zuletzt sei noch Art. 2 ZP Nr. 7 zur EMRK erwähnt. Demgemäss hat, wer von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt worden ist, das Recht, ein Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen, wobei die Bestimmung gewisse Ausnahmen vorsieht. Der EGMR hat besondere Behörden, die Sanktionen verfügen, teilweise als Gerichte qualifiziert (EGMR-Entscheidung Didier gegen Frankreich vom 27. Aug. 2002, Nr. 58188/00). Hat eine weisungsgebundene Verwaltungsbehörde ein strafrechtliches Urteil ausgesprochen, müssen danach noch zwei unabhängige Gerichtsinstanzen angerufen werden können (EGMR-Urteil Grecu gegen Rumänien vom 30. Nov. 2006, Nr. 75101/01, Ziff. 83 ff.; siehe auch Sinner, EMRK Kommentar 2015, Art. 2 ZP Nr. 7 N 3 ff.).
Im EGMR-Urteil Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien, a.a.O., wurde festgestellt, dass die Schwere der Sanktion der WEKO Strafcharakter habe und die Sanktionsnorm einer Strafnorm im Sinne von Art. 6 EMRK gleichkomme. Der EGMR führte im Entscheid aus, dass eine Strafe gemäss Art. 6 EMRK von einer Verwaltungsbehörde ausgesprochen werden könne, auch wenn diese nicht die vollen Verfahrensgarantien eines Gerichts gewährleiste, sofern gegen den Entscheid der Verwaltungsbehörde ein Rechtsweg offenstehe, der die vollen Verfahrensgarantien eines Gerichts (insb. volle Kognition) gewährleiste (vgl. bereits oben).
Das Bundesgericht hat sodann in BGE 139 I 72 festgestellt, dass Art. 49a KG strafrechtsähnlich, aber kein Kernstrafrecht sei. Die Garantien der Art. 6 und 7 EMRK und der Art. 30 und 32 BV seien jedoch anwendbar (zur relativen Anwendung der Verfahrensgarantien ausserhalb des Kernstrafrechts siehe aber Heine, Rechtsgutachten zur Sanktionierung natürlicher Personen / Unternehmen im Zuge der Schweizer Kartellrechtsrevision 2011, S. 8 f. mit Verweis auf das EGMR-Urteil Jussila gegen Finnland, a.a.O., Ziff. 43). Das Bundesgericht führte aus, dass die WEKO den Anforderungen nach Art. 6 EMRK nicht genüge. Das Bundesverwaltungsgericht indessen erfülle diese, da es über volle Kognition verfüge. Selbst wenn sich das Bundesverwaltungsgericht bei technischen Fragen eine gewisse Zurückhaltung auferlege, liege hierin kein Verstoss gegen Art. 6 EMRK. Demzufolge bedürfe es keiner institutionellen Änderung des Sanktionsregimes im Kartellrecht.
Die begriffliche Kategorisierung gemäss Schweizer Kartellrecht und in anderen Erlassen (siehe Fussnote 1) in Verwaltungssanktionen und Strafsanktionen ist nicht ausschliessliches Kriterium für die Anwendung der strafprozessualen Verfahrensgarantien. Aufgrund der Qualifikation der kartellrechtlichen Sanktionen als strafrechtlich bzw. strafrechtsähnlich sind strafprozessualen und materiellen Verfahrensgarantien gemäss EMRK resp. BV zu beachten. Dazu gehört auch das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot, wonach die Betroffenen ihr Verhalten nach dem Gesetz richten und die Folgen ihres Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen können müssen (BGE 119 IV 242 E. 1c S. 244; BGE 125 IV 35 E. 8 S. 48; kritisch zum Bestimmtheitsgebot im Kartellrecht statt vieler Niggli/Riedo 2013, Rz. 30 ff. m.w.H.). Eine Relativierung ist wie erwähnt möglich, da es sich nicht um Kernstrafrecht handelt (vgl. EGMR Urteil Jussila gegen Finnland, a.a.O., Ziff. 43; Niggli/Riedo 2013, Rz. 112 ff. m.w.H.). Um den Unternehmen im Kartellrecht Rechtssicherheit zu gewährleisten, haben sie die Möglichkeit, eine möglicherweise unzulässige Verhaltensweise vor ihrem Vollzug der WEKO zu melden (BBl 2002 2022, 2023).
Weiter darf eine angeklagte Person gemäss Art. 6 EMRK nicht dazu verpflichtet werden, sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare vel prodere). Interessant ist die Frage dieses Verbots im Verhältnis zu den in Art. 40 KG verankerten Mitwirkungspflichten. Nach Art. 40 KG sind Beteiligte an Abreden, marktmächtige Unternehmen und Beteiligte an Zusammenschlüssen grundsätzlich dazu verpflichtet, den Wettbewerbsbehörden die erforderlichen Informationen zu liefern – und zwar auch in einem allfälligen Sanktionsverfahren. Verweigert das betroffene Unternehmen die Auskunft, wird es gemäss Art. 52 KG sanktioniert und die für das Unternehmen tätigen natürlichen Personen stehen unter Strafdrohung nach Art. 55 KG. Schliesslich soll die WEKO gegenüber einem Unternehmen, das als Kartellmitglied an der Aufdeckung und Beseitigung des betreffenden Kartells mitgewirkt hat, auf direkte Sanktionen ganz oder teilweise verzichten können (Bonusregelung).
Wie erwähnt ist eine gewisse Relativierung der strafprozessualen Verfahrensgarantien möglich, da es sich beim Kartellrecht nicht um Kernstrafrecht handelt. Die Mitwirkung der Unternehmen ist zudem Voraussetzung dafür, dass kartellrechtliche Verstösse mit einem verhältnismässigen Aufwand überhaupt entdeckt werden können.
Ein Urteil des EGMR, das sich mit diesen Fragen auseinandersetzte, dürfte mit Spannung erwartet werden.
Die begriffliche Kategorisierung ist im Sinne der Rechtssicherheit sinnvoll. Die Geltung der strafprozessualen Verfahrensgarantien bemisst sich jedoch nach den vom EGMR entwickelten Kriterien. Auch wenn Sanktionen nach Schweizer Recht als Verwaltungsrecht qualifiziert werden, können sie Strafrecht im Sinne der EMRK darstellen, womit strafrechtliche Garantien eingehalten werden müssen. Sofern die Sanktionen nicht in den Bereich des Kernstrafrechts fallen, sondern etwa dem Kartellrecht zugeordnet werden, liegt nach der EGMR-Rechtsprechung jedoch ein Spielraum vor, der eine gewisse Relativierung bei den Verfahrensgarantien erlaubt. Im Kartellrecht ist es beispielsweise zulässig, dass die Sanktionen zunächst durch eine Verwaltungsbehörde (mit Kompetenzbündelung von Untersuchung, Anklageentscheidung und Sanktionierung) verhängt und erst danach durch ein Gericht mit voller Kognition überprüft werden (EGMR-Urteil, Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien, a.a.O., Nr. 43509/08, Ziff. 62).
Die Durchsetzung des Rechts steht in einem ständigen Spannungsverhältnis mit der Wahrung der Rechte der betroffenen Personen. Insbesondere in Rechtsgebieten, wo die Durchsetzung des Rechts der Mitwirkung der Betroffenen bedarf, stellt dies Gesetzgeber, Rechtsprechung und die rechtsanwendenden Behörden bei ihrer täglichen Tätigkeit vor grosse Herausforderungen.
Janina Aufrichtig, BJ
- Karpenstein, Ulrich/Mayer, Franz (Hrsg.), 2015, EMRK Kommentar, 2. Auflage, München (zit. Autor, EMRK Kommentar 2015, Art.).
- Locher, Alexander, 2013, Verwaltungsrechtliche Sanktionen – Rechtliche Ausgestaltung, Abgrenzung und Anwendbarkeit der Verfahrensgarantien, Zürich/Basel/Genf.
- Meyer-Ladewig, Jens/Nettesheim, Martin/von Raumer, Stefan (Hrsg.), 2017, EMRK Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Auflage, Basel (zit. Autor, EMRK Handkommentar 2017, Art.).
- Niggli, Marcel Alexander/Gfeller, Diego R., 2013, Kommentar zu Art. 102 StGB, in: Niggli, Marcel Alexander/Wiprächtiger, Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 3. Auflage, Basel.
- Niggli, Marcel Alexander/Riedo, Christian, 2013, Kartellstrafrecht, in: Ackermann, Jürg-Beat/Heine, Günter (Hrsg.), Bern, 633-676.
- Niggli, Marcel Alexander/Riedo, Christian, 2010, Kommentar vor Art. 49a-53 KG, in: Amstutz, Marc/Reinert, Mani (Hrsg.), Basler Kommentar Kartellgesetz, Basel.
- Riedo, Christian/Niggli, Marcel Alexander, 2010, Kommentar zu Art. 54 KG, in: Amstutz, Marc / Reinert, Mani (Hrsg.), Basler Kommentar Kartellgesetz, Basel.
- Roth, Robert/Heine, Günter, 2011, Rechtsgutachten zur Sanktionierung natürlicher Personen / Unternehmen im Zuge der Schweizer Kartellrechtsrevision, Bern, Genf (zit. Autor, Rechtsgutachten zur Sanktionierung natürlicher Personen/Unternehmen im Zuge der Schweizer Kartellrechtsrevision 2011).
- Vasella, Juana, 2018, Die originäre Verantwortlichkeit des Unternehmens nach Art. 102 Abs. 2 StGB, in: forumpoenale 1/2018, S. 54-58.
- 1 Nicht nur im Kartellrecht, sondern auch in anderen Rechtsgebieten drohen Unternehmen pekuniäre Verwaltungssanktionen. Solche Sanktionen sind namentlich in Art. 90 des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) und in Art. 60 des Fernmeldegesetzes (FMG) vorgesehen. Es ist auffällig, dass der Gesetzgeber pekuniäre Verwaltungssanktionen begrifflich vom Strafrecht abgrenzt, indem er anstelle der typisch strafrechtlichen Begriffe wie «Bussen zu verhängen» alternative Begriffe wie «mit einem Betrag zu belasten» verwendet.
- 2 Davon rechtskräftig CHF 16’878’640, aufgehoben CHF 330’000’000 und hängig CHF 608’171’935. Rund 70 Verfahren wurden mittels einvernehmlicher Regelungen abgeschlossen.
- 3 www.bj.admin.ch > Staat & Bürger > Forum für Rechtsetzung
- 4 Diverse Informationen des vorliegenden Beitrags entstammen von den genannten Präsentationen. Die Autorin bedankt sich bei Maya Beeler-Sigron, Luzian Odermatt und Klaus Schneider für die kritische Durchsicht des Beitrags.
- 5 Keine sog. «strict corporate liability», vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches, BBl 1999, 2137. Dazu auch instruktiv BGE 142 IV 333, der bislang einzige höchstrichterliche Entscheid zu materiellen Fragen betreffend Art. 102 StGB.