Tagungsberichte

«Verhältnismässigkeit als Grundsatz in der Rechtsetzung und Rechtsanwendung»

Kurzbericht von der 17. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzungslehre der Universität Zürich

Markus Nussbaumer
Markus Nussbaumer

Zitiervorschlag: Markus Nussbaumer, «Verhältnismässigkeit als Grundsatz in der Rechtsetzung und Rechtsanwendung», LeGes 29 (2018) 3


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Beginnen wir mit einem Beispiel. Artikel 50 Absatz 1 der Schwerverkehrsabgabeverordnung vom 6. März 2000 (SVAV; SR 641.811) lautet seit dem 1. März 2016 (AS 2016 513) wie folgt (Abs. 2 übrigens ganz ähnlich):

Art. 50 Zahlungsverzug

 

1 Wird die Abgabe für ein inländisches Fahrzeug nicht bezahlt, unterbleiben Vorauszahlungen oder Sicherheitsleistungen oder werden von den Vollzugsbehörden angeordnete Sicherungsmassnahmen durch die Halterin oder den Halter nicht umgesetzt, so wird die Halterin oder der Halter gemahnt; bleibt die Mahnung erfolglos, so kann die EZV [Eidgen. Zollverwaltung] zusätzlich zu den Massnahmen nach Artikel 14a SVAG [Schwerverkehrsabgabegesetz]:

 

a. die Weiterfahrt mit dem Fahrzeug verweigern; oder
 
b. das Fahrzeug beschlagnahmen, soweit dies unter den gegebenen Umständen verhältnismässig ist.

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Buchstabe b droht für den im Einleitungssatz formulierten Tatbestand als Sanktion die Beschlagnahme des Fahrzeugs an, schränkt diese Androhung aber mit einem Verweis auf das Verhältnismässigkeitsprinzip ein. In Buchstabe a wird hingegen nicht auf das Verhältnismässigkeitsprinzip verwiesen. Es stellt sich eine Reihe von Fragen: Wurde hier unsauber redigiert, das heisst sollte sich der Hinweis auf das Verhältnismässigkeitsprinzip auf beide angedrohten Sanktionen beziehen (dann hätte man ihn wohl im Einleitungssatz oder in einem nachfolgenden eigenen Absatz platzieren sollen)? Falls der Verweis auf das Verhältnismässigkeitsprinzip aber mit Absicht nur in Buchstabe b steht: Gilt das Verhältnismässigkeitsprinzip somit für die Sanktion nach Buchstabe a nicht (man beachte allerdings, dass der Einleitungssatz klarerweise ein «kann» formuliert)? Gilt das Verhältnismässigkeitsprinzip nicht ohnehin ganz generell für die Rechtsanwendung und ganz besonders auch für das Verhängen von Sanktionen? Falls dem aber so ist: Warum erwähnt man es dann in Absatz 1 Buchstabe b ausdrücklich, nicht jedoch in Buchstabe a? Und welche (unerwünschten) Schlussfolgerungen könnte eine solche Rechtsetzung provozieren?

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Solche und sehr viele andere Fragen rund um das Verhältnismässigkeitsprinzip als leitenden Grundsatz – der Rechtsanwendung wie im Beispiel, aber auch der Rechtsetzung (wann ist eine Regelung verhältnismässig?) – standen im Zentrum der Diskussionen der 17. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzung an der Universität Zürich. Die Tagung folgte dem seit Jahren üblichen Muster: Referate vor dem Plenum in einem ersten Teil – dieses Jahr waren es lediglich zwei. Eine Reihe von Workshops in einem zweiten Teil – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten dieses Jahr nacheinander drei von fünf angebotenen Workshops besuchen. Den Abschluss bildete wie immer eine Schlussveranstaltung im Plenum mit kurzen Zusammenfassungen der Arbeiten in den Workshops und mit der Möglichkeit zur Schlussdiskussion (die wie oft in den letzten Jahren nur sehr verhalten genutzt wurde).

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Referiert hat zunächst Markus Müller von der Universität Bern zum «Verhältnismässigkeitsprinzip aus dem Blickwinkel des Verwaltungsrechts». Der Vortrag ging den rechtsphilosophischen und rechthistorischen Wurzeln des Grundsatzes nach und legte mit seinem Gehalt und der lebhaften und engagierten Art der Präsentation einen ausgezeichneten Boden für die Tagung. Müller äusserte recht deutlich sein Bedauern darüber, dass der Grundsatz in der Bundesverfassung (BV) von 1999 in Artikel 5 Absatz 2 nun sogar ausdrücklich festgeschrieben («positiviert») wurde («Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.»), was seiner vor- und überverfassungsmässigen Natur tendenziell schaden könnte. Auf das Referat folgte eine engagierte Diskussion, wie man sie an diesen Tagungen leider nicht oft erlebt.

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Den zweiten Vortrag bestritt der Tagungsleiter Felix Uhlmann von der Universität Zürich selber. Er referierte zum «Verhältnismässigkeitsprinzip aus dem Blickwinkel der Rechtsetzungslehre», behandelte den Grundsatz also in erster Linie als handlungsleitende Maxime bei der Setzung von Recht: Ist die angepeilte Regelung nötig und tauglich? Wie bestimmt oder offen soll eine Regelung sein? Wie viel Ermessen ist der Rechtsanwendung – ausdrücklich oder implizit – einzuräumen? – Das waren nur einige der vielen für die Gesetzgebung wichtigen Fragen.

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Nach den beiden Referaten ging die Arbeit in Workshops weiter. Im Workshop von Eva Vontobel (Kt. Zürich) zur «Umsetzung der Verhältnismässigkeitsprüfung im Gesetzes- und Verordnungsrecht» wurden in sehr lebhafter Form aufschlussreiche Beispiele diskutiert, wie im juristischen Normtext selber das Verhältnismässigkeitsprinzip aufscheint und wo dies sinnvoll ist und wo nicht (vgl. das einleitende Bsp.). August Mächler (Kt. Schwyz) behandelte mit seinen Gruppen den «Verhältnismässigen Einsatz von Regelungsinstrumenten», u. a. am Beispiel Hundegesetz und in der Leistungsverwaltung/Sozialhilfe. David Hofstetter (Rechtsanwalt Baden) bot unter dem Titel «Schematisierungen und Verhältnismässigkeit» nicht eigentlich einen Workshop an, sondern hielt einen Vortrag darüber, warum «Schematisierungen», das heisst strikte Vorgaben des Gesetzgebers, die das Ermessen klar einschränken, sinnvoll und nötig sind. Der Workshop von Regula Hunger (Kt. Graubünden) widmete sich der «Verhältnismässigkeit staatlicher Sanktionen». Schliesslich beschäftigte Georg Müller (Prof. em. Universität Zürich) seine Arbeitsgruppen unter dem Titel «Methoden und Verfahren der Verhältnismässigkeitsprüfung, insbesondere Prognose-, Abwägungs-, Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten» und rief darin wieder einmal einige Grundregeln umsichtiger Rechtsetzung in Erinnerung, die es zu beachten gilt, wenn die Rechtsetzung selber das Prädikat der Verhältnismässigkeit verdienen will: Abklärung der Notwendigkeit einer Regelung, Denken in Alternativen, Regulierungsfolgen ex ante abschätzen, Regulierungsfolgen ex post beobachten, erheben, die nötigen Nachbesserungen vornehmen und so weiter.

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Nachdem 2007 und 2016 das Legalitätsprinzip Gegenstand wissenschaftlicher Tagungen des Zentrums für Rechtsetzungslehre war, nahm sich die diesjährige Tagung also mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip eines weiteren der ganz grossen Themen der Rechtsetzung und ihrer Anwendung an. Man darf gespannt sein, welches dieser Prinzipien als nächstes ansteht; mit Blick auf Artikel 5 Absatz 2 der Bundesverfassung drängt sich ja fast das «öffentliche Interesse» auf. Für die 18. Jahrestagung – am 10. September 2019 – steht das Thema bereits fest, und es ist – zumindest auf den ersten Blick, aber man weiss ja nie – weniger grundsätzlicher Art: Es soll dann um die «Umsetzung von übergeordnetem Recht» gehen.

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Die Referate und Workshops der Tagungen des Zürcher Zentrums für Rechtsetzungslehre werden seit einigen Jahren in Buchform veröffentlicht (im Dike-Verlag). Dies wird auch mit der diesjährigen Tagung zum Verhältnismässigkeitsprinzip der Fall sein. Pünktlich zur Tagung 2018 ist der Band mit den Beiträgen der Tagung 2017 erschienen: «Felix Uhlmann / Stefan Höfler (Hrsg.): Gute Gesetzessprache als Herausforderung für die Rechtsetzung. 16. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzungslehre. Zürich / St. Gallen: Dike 2018».


Markus Nussbaumer, Schweizerische Bundeskanzlei.

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