Konsultation parlamentarischer Kommissionen zu Verordnungsentwürfen

Ein Beispiel kooperativer Gewaltenteilung

  • Autor/Autorin: Martin Graf
  • Beitragsart: Wissenschaftliche Beiträge
  • DOI: 10.38023/987dd69a-90d3-4b87-92c4-61fcc099050a
  • Zitiervorschlag: Martin Graf, Konsultation parlamentarischer Kommissionen zu Verordnungsentwürfen , in: LeGes 32 (2021) 2
Nach einer Darstellung der gesetzlichen Grundlage für die Konsultation parlamentarischer Kommissionen zu Verordnungsentwürfen weist der Beitrag auf offene Fragen hin: Unvollständige Umsetzung der Informationspflicht des Bundesrates, mangelhafte Information der Öffentlichkeit, Konsultation in dringlichen Fällen. De lege ferenda werden mögliche und wünschbare Lösungen aufgezeigt. Im Weiteren wird die Praxis der Konsultationen mit konkreten Beispielen veranschaulicht. Die Konsultation wird als Beispiel der Umsetzung der für das schweizerische Staatsrecht grundlegenden kooperativen Gewaltenteilung eingeordnet.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Gesetzliche Grundlage
  • 2. Offene Fragen
  • 2.1. Unvollständig umgesetzte Informationspflicht des Bundesrates?
  • 2.2. Information der Öffentlichkeit über die Konsultationen?
  • 2.3. Konsultation zu dringlichen Verordnungen?
  • 3. Das Konsultationsrecht in der Praxis
  • 3.1. Die Praxis zu Artikel 151 ParlG
  • 3.2. Die Praxis zu Artikel 1 Absatz 4 und 5 des Covid-19-Gesetzes
  • 4. Bilanz: Vermischung der Kompetenzen oder zweckmässige kooperative Gewaltenteilung?

1.

Gesetzliche Grundlage ^

[1]

Die Rechtsgrundlagen für die Konsultation parlamentarischer Kommissionen zu Verordnungsentwürfen finden sich in Artikel 22 Absatz 3 und Artikel 151 des Parlamentsgesetzes (ParlG; SR 171.10). Der 3. Titel («Aufgaben der Bundesversammlung») des ParlG enthält «Präzisierungen und Konkretisierungen der Aufgaben der Bundesversammlung, soweit die Verfassung nicht hinlänglich klar bestimmt ist»; ferner wird angegeben, in welcher Form die Bundesversammlung ihre Aufgaben wahrnimmt (BBl 2001 3535). Artikel 22 ParlG («Gesetzgebung») zeigt in Absatz 3 auf, «dass die Bundesversammlung bei der Wahrnehmung ihrer Stammfunktion der Gesetzgebung auch dann mitwirken kann, wenn sie die Rechtsetzung an den Bundesrat delegiert hat» (BBl 2001 3536). Die Bundesversammlung wirkt mit durch ihre zuständigen Kommissionen; diese «werden auf Verlangen vor dem Erlass von rechtsetzenden Bestimmungen des Bundesrates konsultiert» (Art. 22 Abs. 3 ParlG). Es gilt also das Hol-Prinzip und es handelt sich um ein Zugrecht; die Kommission muss von sich aus aktiv werden. Vorbehalten bleibt eine allfällige Dringlichkeit der Verordnung; der Bundesrat kann bei Bedarf sofort handeln und muss eine etwaige Konsultation nicht abwarten. Konsultation bedeutet, dass die Kommission eine Stellungnahme mit Empfehlungen für eine Änderung des Entwurfs abgeben kann. Solche Empfehlungen sind rechtlich nicht verbindlich. Der Bundesrat kann davon abweichen; seine Zuständigkeit bleibt gewahrt. Die Kommission kann allerdings versuchen, sollte sie mit der Umsetzung ihrer Empfehlung nicht zufrieden sein, diese zu erzwingen, indem sie auf dem Wege der Gesetzgebung (mit einer parlamentarischen Initiative oder einer Motion) eine Änderung der Delegationsnorm im Gesetz initiiert.

[2]

In Artikel 151 im 7. Titel des ParlG («Verkehr zwischen der Bundesversammlung und dem Bundesrat») wird das Verfahren näher präzisiert. Nach Absatz 1 kann die zuständige Kommission verlangen, dass sie zum Entwurf einer wichtigen Verordnung konsultiert wird. Aus den Materialien geht klar hervor, dass die Einfügung des Wortes wichtig deklaratorischer Natur war und damit keine Einschränkung des Konsultationsrechts bezweckt wurde; allein die Kommission definiert, was für sie wichtig ist (Graf 2014, Art. 151 N. 9). In der Regel werden Verordnungen unmittelbar im Anschluss an eine Gesetzesänderung neu erlassen oder geändert. Artikel 151 Absatz 2 ParlG sieht daher vor, dass die Kommission bei der Gesamtabstimmung über einen Erlassentwurf beschliesst, ob sie konsultiert werden will. Verordnungen können aber auch unabhängig von einer unmittelbar vorausgehenden Gesetzesänderung erlassen werden. Damit eine Kommission auch in diesem Fall eine Konsultation verlangen kann, wird der Bundesrat in Artikel 151 Absatz 3 ParlG verpflichtet, die Bundesversammlung über die Vorbereitungen von Verordnungen in Kenntnis zu setzen.

[3]

Artikel 22 Absatz 3 und Artikel 151 ParlG begründen keine eigenständige Kompetenz, weil eine Kommission bereits aufgrund ihrer allgemeinen Informationsrechte nach Artikel 150 ParlG jederzeit vom Bundesrat Auskunft über geplante Verordnungen verlangen kann, was ihr ermöglicht, gegebenenfalls Empfehlungen abzugeben.

2.

Offene Fragen ^

2.1.

Unvollständig umgesetzte Informationspflicht des Bundesrates? ^

[4]

Im Falle einer Verordnungsgebung «unmittelbar im Anschluss an einen Erlass der Bundesversammlung» (Art. 151 Abs. 2 ParlG) ist eine ausdrückliche Information des Bundesrates über die Vorbereitung einer Verordnungsänderung nicht erforderlich und somit überflüssig; die zuständigen Kommissionen können davon ausgehen, dass der Erlass der Bundesversammlung, in der Regel ein neues Gesetz oder eine Gesetzesänderung, Vollzugsvorschriften des Bundesrates nach sich zieht.

[5]

Verordnungen können aber auch unabhängig von einer unmittelbar vorausgehenden Gesetzesänderung neu erlassen oder geändert werden. Es stellt sich die Frage, wie die zuständigen Kommissionen rechtzeitig von solchen geplanten Verordnungen erfahren, damit sie ihr Konsultationsrecht geltend machen können. Artikel 151 Absatz 3 ParlG beantwortet die Frage eindeutig, indem die Informationspflicht für alle Verordnungen gilt und nicht auf bestimmte Kategorien von Verordnungen beschränkt ist. Diese Frage wurde bei den Beratungen des ParlG explizit beantwortet. Ständerat Wicki führte als Kommissionsberichterstatter am 5. März 2002 im Ständerat aus: «Im Übrigen ist festzuhalten, dass die Konsultation auch dann möglich sein soll, wenn der Bundesrat kein Vernehmlassungsverfahren durchführt. Entsprechende Anträge, welche der Kommission von der Bundeskanzlei gestellt wurden, sind ausdrücklich abgelehnt worden». Als konkretes Beispiel von Verordnungsrecht, das nicht ausserhalb der Bundesverwaltung vollzogen wird und zu welchem daher kein Vernehmlassungsverfahren durchgeführt wird, erwähnte Wicki das Bundespersonalrecht (AB 2002 S 41).

[6]

Die Informationspflicht des Bundesrates ist heute in Artikel 12 Absatz 2 der Vernehmlassungsverordnung (SR 172.061.1) geregelt: «Die Bundeskanzlei informiert die Büros der eidgenössischen Räte unmittelbar nach dem Beschluss des Bundesrates über die Eröffnung einer Vernehmlassung zu einer Verordnung.» Nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d und e des Vernehmlassungsgesetzes (VlG; SR 172.061) ist bei der Vorbereitung von Verordnungen eine Vernehmlassung durchzuführen, wenn sie «von grosser politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer oder kultureller Tragweite sind» oder «einzelne oder alle Kantone in erheblichem Mass betreffen oder in erheblichem Mass ausserhalb der Bundesverwaltung vollzogen werden.»

[7]

Artikel 12 Absatz 2 der Vernehmlassungsverordnung setzt die ausdrücklich erklärte Absicht des Gesetzgebers nicht vollständig um – damit wurde nicht der Beschluss des Parlamentes, sondern der abgelehnte Antrag des Bundesrates umgesetzt.

[8]

An dieser Feststellung ändert der Umstand nichts, dass die Büros von Nationalrat und Ständerat dieser Form der Umsetzung der Informationspflicht ausdrücklich zugestimmt haben (siehe dazu näher Graf 2014, Art. 151 N. 24). Diese Haltung der Büros ist ein Beispiel für die «nicht seltenen Konfliktsituationen zwischen einem Büro, das die Ratsarbeiten möglichst effizient organisieren möchte, und eigenständigen Ratsmitgliedern und -organen, die ihre Initiativ- und Antragsrechte effektiv wahrnehmen wollen» (Graf 2015, 20).

[9]

Als Begründung für die Haltung der Bundeskanzlei und der Ratsbüros wurde die Befürchtung vorgebracht, die Kommissionen könnten durch die grosse Zahl von Verordnungsänderungen überlastet werden. Ständerat Briner argumentierte in der bereits oben zitierten Ratsdebatte: «Jährlich wird für ungefähr 40 bis 60 Verordnungen eine Vernehmlassung durchgeführt. Diese Verordnungen können tendenziell auch als «wichtig» betrachtet werden. Anpassungen an Verordnungen ohne Vernehmlassungsverfahren gibt es ungefähr 250. Wir haben also ein Mengenproblem. Nach der Fassung des Nationalrates hätten sich die zuständigen parlamentarischen Kommissionen also mit ungefähr 300 Verordnungsänderungen pro Jahr zu befassen. Ich glaube nicht, dass wir das wollen.» Diese Argumentation verkennt, dass das Konsultationsrecht ja keineswegs dazu führt, dass sich die Kommissionen mit jeder Verordnungsänderung befassen müssen – so wenig wie z. B. die Schweizer Stimmberechtigten sich mit jeder Gesetzesänderung befassen müssen, die dem fakultativen Referendum unterstellt ist. Das Konsultationsrecht ist ein Zugrecht; die nötige Selektion der wenigen politisch potenziell wichtigen Verordnungen kann in der Praxis durch die Kommissionspräsidien vorgenommen werden, die dabei durch die Kommissionssekretariate unterstützt werden (siehe dazu Ziff. 3.1).

[10]

Diese Selektion darf aber im Lichte der Gewaltenteilung nicht dem Bundesrat und seiner Verwaltung obliegen. Wird dem Parlament oder einem seiner Organe durch das Gesetz ein Recht eingeräumt, so sollte es selbst entscheiden können, ob es in einem konkreten Anwendungsfall dieses Recht wahrnehmen will oder nicht. Indem aber der Bundesrat entscheidet, wie er die Tragweite einer Verordnung einstuft, entscheidet er zugleich darüber, ob eine Kommission Gelegenheit erhält, das ihr zustehende Recht wahrzunehmen.

2.2.

Information der Öffentlichkeit über die Konsultationen? ^

[11]

Die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen ist ein unverzichtbares Element für das Funktionieren einer Demokratie. Demokratische Legitimation staatlichen Handelns entsteht, indem Wählerinnen und Wähler das Handeln der von ihnen gewählten Ratsmitglieder nachverfolgen und gegebenenfalls bei den nächsten Wahlen sanktionieren können. Artikel 158 der Bundesverfassung (BV; SR 101) schreibt die Öffentlichkeit der Sitzungen der Räte vor, unter Vorbehalt der durch das Gesetz vorgesehenen Ausnahmen.

[12]

Artikel 47 ParlG hält eine generelle Vertraulichkeit der Beratungen der Kommissionen fest. Für diese Vertraulichkeit können gute Gründe vorgebracht werden (vgl. Theler 2014, Art. 47 N. 10). Im Lichte von Artikel 158 BV ist die Vertraulichkeit vertretbar, solange die Kommissionen eine bloss vorberatende Funktion für die Ratsplena haben und die Öffentlichkeit im Rahmen der Ratsdebatten hergestellt wird. Problematisch wird die Vertraulichkeit aber, wenn «einzelne Befugnisse, die nicht rechtsetzender Natur sind, an Kommissionen übertragen» werden (Art. 153 Abs. 3 BV). Diese Kompetenzdelegation muss nach Artikel 153 Absatz 3 BV durch das Gesetz erfolgen. «Damit werden aber […] Beratungsgegenstände auch der Ratsöffentlichkeit entzogen. Aufgrund von Art. 158 BV bedarf es m.E. dazu einer expliziten gesetzlichen Grundlage» (von Wyss 2014, Art. 158 N. 9). Dieser Schlussfolgerung ist zuzustimmen, mit der Präzisierung, dass die allgemeine gesetzliche Grundlage für die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen nicht genügt, sondern dass spezifische Gründe für die Vertraulichkeit vorliegen müssen und Anforderungen an die öffentliche Zugänglichkeit gestellt werden müssen. Herstellung von Öffentlichkeit bedeutet dabei nicht zwingend, dass die eigentliche Kommissionsberatung öffentlich wird, was nicht zuletzt aus praktischen Gründen wenig zweckmässig erscheint. Das Ziel kann auch erreicht werden, indem wichtige Kommissionsunterlagen, insbesondere ein Bericht über die Ergebnisse der Kommissionsberatungen mit Wiedergabe der wesentlichen vorgebrachten Argumente veröffentlicht wird.

[13]

Die Konsultation von Kommissionen zu Verordnungsentwürfen erfolgt auf Grundlage der durch Artikel 22 Absatz 3 ParlG vorgesehenen Kompetenzdelegation. Ein Blick auf die Praxis (siehe Ziff. 3, mit konkreten Beispielen) zeigt, dass die Information der Öffentlichkeit über diese Konsultationen nur sehr rudimentär erfolgt. In vielen Fällen wird gar nicht informiert. Wenn informiert wird, dann besteht die Information häufig nur in einem Hinweis, dass eine Konsultation erfolgt ist, ohne Angaben über die Ergebnisse. Nur selten wird die Stellungnahme einer Kommission direkt oder zumindest in Form einer detaillierten Zusammenfassung veröffentlicht.

[14]

Spezifische Gründe für eine Vertraulichkeit solcher Stellungnahmen der Kommissionen und der Entscheidgrundlagen (Verordnungsentwurf samt Erläuterungen)1 sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil dürfte in vielen Fällen ein Interesse der Öffentlichkeit, insbesondere der durch eine Verordnung besonders betroffenen Kreise an der Kenntnisnahme der Stellungnahmen vorliegen, da anzunehmen ist, dass sie den definitiven Inhalt der Verordnung beeinflussen. Die Stellungnahmen der Kommissionen haben eine ähnliche, aber wohl noch wichtigere2 Funktion als die Stellungnahmen der Kantone und der interessierten Kreise im Vernehmlassungsverfahren und sollten daher genauso veröffentlicht werden, wie dies Artikel 9 VlG für die Vernehmlassungsunterlagen und -stellungnahmen vorschreibt.

[15]

Falls eine Kommission eine Stellungnahme abgibt – sie kann darauf auch verzichten –, so müsste die Veröffentlichung auch in ihrem eigenen Interesse liegen, da sie damit auch bei der Auswertung durch den Bundesrat einen höheren Stellenwert erhält.

[16]

Eine bessere Information der Öffentlichkeit durch die Kommissionen könnte zwar auch durch eine Praxisänderung erreicht werden, nachdem mit der Schaffung von Artikel 47a ParlG und der Änderung von Artikel 8 der Parlamentsverwaltungsverordnung (ParlVV; SR 171.115; in Kraft seit dem 2. Dezember 2019) die Kommissionen ermächtigt wurden, ihre Unterlagen (mit Ausnahme der Protokolle ihrer Sitzungen) unter bestimmten Voraussetzungen zu veröffentlichen. Wünschbar wäre aber, dass in einem nächsten Schritt dieses Recht zur Information zu einer gesetzlichen Pflicht zur Veröffentlichung der betreffenden Kommissionsunterlagen bei der Wahrnehmung von Zuständigkeiten auf Grundlage einer Kompetenzdelegation an die Kommissionen weiterentwickelt wird.3

[17]

Vergleichbar mit den Konsultationen zu Verordnungsentwürfen sind insbesondere die Konsultationen zu den Entwürfen der «Richt- und Leitlinien zum Mandat für bedeutende internationale Verhandlungen» (Art. 152 ParlG). Auch hier nehmen Kommissionen in zwar rechtlich nicht bindender, aber politisch bedeutsamer Form Einfluss; auch hier wird eine Veröffentlichung der Stellungnahmen gefordert (Pfisterer 2021, 127 ff.).

2.3.

Konsultation zu dringlichen Verordnungen? ^

[18]

Wie oben (Ziff. 1) dargelegt, kann eine Kommission ihr Konsultationsrecht nur wahrnehmen, «sofern die Dringlichkeit der Verordnung es zulässt» (Art. 21 Abs. 3 ParlG). Durch die Corona-Krise ist die Verordnungsgebung des Bundesrates in dringlichen Situationen ohne vorgängige Konsultation in Frage gestellt worden. Das Covid-19-Gesetz vom 25. September 2020 (SR 818.102) enthält weitreichende Delegationen an den Bundesrat, welche er in der Folge mit zahlreichen, meistens sehr kurzfristig erlassenen Verordnungen und Verordnungsänderungen intensiv genutzt hat. Der Bundesrat hatte in seinem Entwurf zum Covid-19-Gesetz in Artikel 1 Absatz 3 vorgeschlagen, dass er die Kantone bei der Vorbereitung von Massnahmen, die ihre Zuständigkeiten betreffen, miteinbeziehen muss (BBl 2020 6625). Aufgrund verschiedener im Nationalrat gestellter Anträge wurde Artikel 1 mit folgenden zwei Absätzen ergänzt:

4 Er [der Bundesrat] informiert das Parlament regelmässig, frühzeitig und umfassend über die Umsetzung dieses Gesetzes. Er konsultiert die zuständigen Kommissionen vorgängig über die geplanten Verordnungen und Verordnungsänderungen.
5 In dringlichen Fällen informiert der Bundesrat die Präsidentinnen oder Präsidenten der zuständigen Kommissionen. Diese informieren umgehend ihre Kommissionen.
[19]

Die Formulierung orientiert sich an Artikel 152 ParlG, welcher die Information und Konsultation im Bereich der Aussenpolitik regelt. Sie unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von Artikel 22 Absatz 3 und Artikel 151 Absatz 2 ParlG, also vom Normalfall einer Konsultation parlamentarischer Kommissionen zu Verordnungsentwürfen:

[20]

1. Es wird vom Hol-Prinzip zum Bring-Prinzip übergegangen. Es ist nicht die Kommission, die von sich aus aktiv werden und eine Konsultation verlangen muss, sondern der Bundesrat wird verpflichtet, die zuständigen Kommissionen zu informieren und ihnen damit Gelegenheit zu geben, ihre Stellungnahmen und ihre allfälligen Empfehlungen abzugeben. Eine Kommission wird dadurch nicht verpflichtet, Stellung zu nehmen; sie kann auf eine Stellungnahme verzichten.

[21]

2. Auch in dringlichen Fällen darf der Bundesrat nicht auf eine Information verzichten. Er informiert in solchen Fällen die Präsidentinnen oder Präsidenten der zuständigen Kommissionen, welche ihrerseits umgehend ihre Kommissionen informieren. Damit erhalten diese Gelegenheit, zu reagieren und gegebenenfalls nachträglich die Änderung oder Aufhebung einer Verordnung zu verlangen. Im Bereich der Aussenpolitik sieht Artikel 152 Absatz 4 ParlG vor, dass in dringlichen Fällen die Präsidentinnen oder Präsidenten der für die Aussenpolitik zuständigen Kommissionen nicht nur informiert, sondern konsultiert werden. Die Präsidentinnen oder Präsidenten werden damit ermächtigt, in eigener Kompetenz eine Stellungnahme abzugeben. Dass das Covid-19-Gesetz auf diese Ermächtigung verzichtet, erscheint zweckmässig. Wie die Praxis zu Artikel 152 Absatz 4 ParlG zeigt, «ist es für die Kommissionspräsidentinnen oder Kommissionspräsidenten nicht einfach, die politische Verantwortung für eine solche Konsultation zu tragen, denn sollte sie einen politisch nicht vertretbaren Ausgang finden, lastet die Verantwortung einzig auf den APK-Präsidentinnen oder -Präsidenten» (Tripet 2014, Art. 152 N. 38).

[22]

Die Regelung von Artikel 1 Absatz 4 und 5 des Covid-19-Gesetzes gilt nur für auf dieses Gesetz gestützte Verordnungen, also nicht für Verordnungen des Bundesrates gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV oder auf einzelne Bestimmungen anderer Gesetze, insbesondere des Epidemiengesetzes (EpG; SR 818.01), wie sie insbesondere in der Anfangsphase der Corona-Krise zahlreich erlassen worden sind.4

[23]

De lege ferenda stellt sich die Frage, ob die befristete Regelung des Covid-19-Gesetzes in eine allgemein geltende und dauerhafte Regelung überführt werden soll. Die Erfahrung bei der Anwendung des Covid-19-Gesetzes zeigt, dass die Kommissionen durchaus imstande sind, in kurzer Frist zu von ihnen als politisch wichtig erachteten Verordnungsänderungen Stellung zu nehmen und dass die Handlungsfähigkeit des Bundesrates durch diese Praxis nicht ernsthaft beeinträchtigt worden ist (siehe unten, Ziff. 3.2). Gemäss Medienmitteilung der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-N) vom 28. Mai 2021 «soll mit dem Ausbau des parlamentarischen Konsultationsrechts beim Verordnungsprozess die parlamentarische Mitwirkung beim Erlass von Notverordnungen des Bundesrates verbessert werden». Aufgrund der in der Corona-Krise gemachten Erfahrungen kann erwartet werden, dass nicht unterschieden werden soll zwischen den auf Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 BV und den auf Bundesgesetze gestützten dringlichen Verordnungen5. Zu empfehlen ist auch, dass gegenüber Artikel 22 und 151 ParlG präzisiert wird, dass die Regelung für Verordnungen des Bundesrates und der Departemente gilt, damit der Bundesrat seine Informationspflicht und damit das Konsultationsrecht der Kommissionen nicht in eigener Kompetenz durch die Delegation an ein Departement umgehen kann.6

3.

Das Konsultationsrecht in der Praxis ^

3.1.

Die Praxis zu Artikel 151 ParlG ^

[24]

Weil die Beratungen und Unterlagen der Kommissionen grundsätzlich vertraulich sind (siehe oben, Ziff. 2.2), steht eine Darstellung und Analyse der Praxis der Konsultationen zu Verordnungsentwürfen vor grossen Schwierigkeiten. Die Kommissionen berichten zwar in ihren Medienmitteilungen gelegentlich über durchgeführte Konsultationen; diese Informationen sind aber in der Regel sehr summarisch gehalten und geben den Inhalt beschlossener Empfehlungen an den Bundesrat häufig nicht wieder. Auf dieser Grundlage ist eine vollständige und systematische Aufarbeitung dieser Kommissionstätigkeiten nicht möglich. Die Fragen, wie gross der Anteil tatsächlich durchgeführter Konsultationen im Verhältnis zu allen Verordnungsänderungen ist, wie häufig Empfehlungen abgegeben werden und welchen Erfolg diese Empfehlungen haben, können nicht präzise beantwortet werden. Interessant wäre es auch zu erfahren, wie sich die Konsultationspraxis nach Sachbereichen der Bundespolitik sowie nach Nationalrat und Ständerat unterscheidet.7

[25]

Ein erstes, rein quantitatives Bild der Konsultationspraxis ergibt sich aus den Legislaturrückblicken der Kommissionen, welche eine Statistik der durch eine Kommission während einer Legislaturperiode behandelten Geschäfte enthalten.8 Danach haben in der Legislaturperiode 2011–2015 acht Sachbereichskommissionen9 des Nationalrates 53 Konsultationen und die analogen Kommissionen des Ständerates 43 Konsultationen durchgeführt. An der Spitze stehen die Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK) mit 14 Konsultationen im Nationalrat und 11 Konsultationen im Ständerat, an zweiter Stelle die Kommissionen für Rechtsfragen mit 11 Konsultationen im Nationalrat und 9 Konsultationen im Ständerat.

[26]

Es ist davon auszugehen, dass häufig über Konsultationen gar nicht informiert wird. Aufgrund der oben erwähnten Zahlen sind pro Jahr etwa 12–14 Konsultationen von Kommissionen des Nationalrates zu erwarten; Indizien für eine starke Verminderung in der Zeit nach 2015 liegen nicht vor. Bei einer systematischen Durchsicht aller Medienmitteilungen der acht Sachbereichskommissionen im zufällig ausgewählten Jahr 2019 finden sich aber bloss drei Informationen über Konsultationen: Medienmitteilung der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates (SiK-N) vom 9. April 2019, der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates (WAK-N) vom 20. August 2019 und der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Nationalrates (KVF-N) vom 23. Oktober 2019. Die beiden letztgenannten Meldungen beschränken sich auf die Angabe der Durchführung einer Konsultation in einem Satz, ohne Information über die Ergebnisse. Die SiK-N liess sich an ihrer Sitzung vom 8./9. April 2019 «mit Blick auf die Volksabstimmung vom 15. Mai 2019 zur Änderung des Waffengesetzes (Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie)» zu der aufgrund der Gesetzesänderung nötigen Revision der Waffenverordnung (SR 514.541) konsultieren. Die SiK empfahl dem Bundesrat, «in der Waffenverordnung zu präzisieren, dass die Meldung von Waffen elektronisch erfolgen soll, um dadurch den administrativen Aufwand weiter zu senken. Mit 12 zu 12 Stimmen und Stichentscheid des Präsidenten beschloss die SiK-N überdies, dem EJPD Prüfaufträge zu zahlreichen Artikeln zu erteilen. Dadurch sollen der Spielraum der EU-Waffenrichtlinie maximal ausgeschöpft, die Gesetzesbestimmungen möglichst klar umgesetzt und der administrative Aufwand minimiert werden». Dieses Beispiel zeigt, wie eine Kommission ein besonderes Interesse an einer Verordnungsrevision entwickeln kann, wenn diese offensichtlich eine besonders grosse politische Bedeutung hat.

[27]

Die Konsultationspraxis soll hier noch mit drei weiteren Beispielen veranschaulicht werden – aus den oben angegebenen Gründen können sie keine Repräsentativität beanspruchen:

- Die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrates (UREK-N) berichtete am 6. Oktober 2015, dass sie «im Rahmen einer Konsultation vom Entwurf der Verordnung zum Zweitwohnungsgesetz Kenntnis genommen hat». Angesichts der politischen Umstrittenheit dieser Verordnung (SR 702.1) erstaunt, dass diese Meldung keinerlei Information über den Inhalt der Konsultation enthält.
- Die Konsultation zur Änderung der Berufsbildungsverordnung (SR 412.101) – nota bene «im Beisein von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann» – ist Hauptthema der Medienmitteilung der Kommission für Wissenschaft und Bildung des Nationalrates (WBK-N) vom 30. Juni 2017. Die WBK-N hat «wie bereits ihre Schwesterkommission» zwei Änderungen empfohlen, über deren Inhalt informiert wird. Der Vergleich von Entwurf und definitiver Fassung der Verordnungsänderung vom 15. September 2017 zeigt, dass der Bundesrat den Empfehlungen gefolgt ist.
- Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates (WAK-N) hat sich am 5. September 2018 zur Revision der Eigenmittelverordnung (SR 952.03) konsultieren lassen: «Sie hat dazu eine umfangreiche Anhörung mit Vertretern der Schweizerischen Bankiervereinigung, aller systemrelevanter Banken (UBS, CS, Zürcher Kantonalbank, Raiffeisen und Postfinance), der FINMA und der Schweizerischen Nationalbank durchgeführt. Zudem hat sie Prof. Aymo Brunetti als Vertreter der Wissenschaft angehört.» Informationen über den Inhalt der Konsultation finden sich keine.
[28]

Für die Umsetzung des Konsultationsrechts in der Praxis ist es wichtig, dass die Kommissionen, d. h. ihre Präsidentinnen und Präsidenten, im richtigen Moment auf die Frage hingewiesen werden, ob sie eine Konsultation durchführen wollen oder nicht. Der «Commguide», ein internes Handbuch für die Kommissionssekretariate, hält in seiner Ziffer 24.1 («Das Konsultationsrecht der Kommissionen», Stand Dezember 2017) dazu fest:

«2.1.1 Vorarbeiten des Kommissionssekretariates
Das Kommissionssekretariat prüft bereits bei der Vorbereitung eines Geschäftes, ob sich bei den Verordnungen, welche im Nachgang an den Erlass oder die Änderung eines Gesetzes erlassen werden, die Frage nach einer Konsultation stellen könnte oder nicht. Ist davon auszugehen, dass sich in der Ausführungsgesetzgebung wichtige politische Fragen stellen, kann eine Konsultation von Nutzen sein. Zur Beurteilung dieser Frage dient als Hilfsmittel die Botschaft des Bundesrates, welche gestützt auf Artikel 141 Abs. 2 Bst. d ParlG zu dieser Problematik Auskunft geben sollte. Es ist auch sinnvoll, diese Problematik mit der Verwaltung zu besprechen. Das Sekretariat informiert die Präsidentin oder den Präsidenten über die Vorabklärungen und weist auf Verordnungsentwürfe hin, für die eine Konsultation in Frage käme. Gestützt auf diese Vorabklärungen entscheidet die Präsidentin oder der Präsident in der Regel nach der ersten Beratung, ob sie oder er die Frage einer Konsultation einer Verordnung stellt oder nicht.»
[29]

Diese Vorabklärungen werden aber offensichtlich nicht systematisch von allen Kommissionssekretariaten vorgenommen, wie der folgende weitere Satz im «Commguide» zeigt: «Gewisse Kommissionssekretariate weisen in ihren Drehbüchern bei der Gesamtabstimmung auf die Frage einer allfälligen Konsultation hin» (Hervorhebung durch den Autor).

[30]

Zusammenfassend ergibt der Blick auf die Praxis der Konsultationen den Eindruck, dass die Kommissionen selektiv Verordnungsentwürfe auswählen, die wichtigere politische Fragen aufwerfen, was durchaus der Absicht des Gesetzgebers entspricht. Indizien deuten darauf hin, dass die Selektion auch zusätzlich dadurch bestimmt wird, ob eine Kommission im richtigen Zeitpunkt Kenntnis erhält von der Möglichkeit, eine Konsultation zu verlangen.

3.2.

Die Praxis zu Artikel 1 Absatz 4 und 5 des Covid-19-Gesetzes ^

[31]

Die oben (Ziff. 3.1) dargestellten Schwierigkeiten einer Erfassung der Praxis der Kommissionen bestehen auch in Bezug auf Artikel 1 Absatz 4 und 5 des Covid-19-Gesetzes.10 Immerhin sind die Medienmitteilungen der Kommissionen, deren Zuständigkeitsbereiche durch das Covid-19-Gesetz am meisten betroffen sind, ausführlicher als dies bei der «normalen» Konsultationspraxis üblich ist; sie zeigen das Bild einer intensiven Begleitung der Umsetzung des Gesetzes durch die zuständigen Kommissionen. In zwei Fällen haben die Kommissionen ihre Empfehlungen im Einzelnen veröffentlicht. Aufgrund dieser Medienmitteilungen kann die Konsultationspraxis veranschaulicht werden und es kann auch der Erfolg der Empfehlungen überprüft werden.

[32]

Die WAK-N hat an ihrer Sitzung vom 17. November 2020 (Medienmitteilung vom 18. November 2020) den Entwurf der Covid-19-Härtefallverordnung (Link in der Medienmitteilung) mit dem Vorsteher des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD) diskutiert und mehrere Empfehlungen beschlossen. Die Konsultation fand nicht während, sondern nach der Vernehmlassung bei den Kantonen und interessierten Kreisen statt, welche vom 4. bis 13. November gedauert hatte. Die Medienmitteilung erwähnt sechs Empfehlungen für Änderungen des Entwurfs. Drei Empfehlungen wurden ohne Gegenstimmen, eine Empfehlung im Verhältnis von 2 zu 1 und zwei Empfehlungen ganz knapp (eine mit Stichentscheid des Präsidenten) beschlossen. An ihrer Sitzung vom 19. November 2020 hat sich auch die WAK-S mit der Härtefallverordnung beschäftigt. Gemäss Medienmitteilung hat die Kommission dem Vorsteher des EFD «mündlich ihre Überlegungen und Anregungen mitgeteilt»; auf die schriftliche Form wurde also verzichtet. Die knapp gehaltene Medienmitteilung erwähnt eine offenbar als besonders wichtig erachtete Empfehlung, welche bereits von der WAK-N knapp beschlossen und nun von der WAK-S mit 8 zu 1 Stimmen unterstützt wurde: Die von Unternehmen erhaltenen Entschädigungen für Kurzarbeit sollten bei der Berechnung des für Härtefallleistungen massgebenden Umsatzrückgangs nicht in den Umsatz einberechnet werden, weil damit Unternehmen bestraft würden, die auf Kurzarbeit zurückgegriffen haben, statt ihre Angestellten zu entlassen. Ein Vergleich des Verordnungsentwurfs mit der vom Bundesrat am 25. November 2020 beschlossenen Verordnung (AS 2020 4919) zeigt, dass alle sechs Empfehlungen der WAK-N vom Bundesrat vollständig umgesetzt wurden.

[33]

Die Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) haben sich insbesondere mit den zahlreichen Änderungen der Covid-19-Verordnung besondere Lage (SR 818.101.26) intensiv beschäftigt.11 Mit Medienmitteilung vom 2. Dezember 2020 hat die SGK-N ihren Brief an den Bundesrat mit sechs Empfehlungen zur geplanten Änderung der Verordnung mit «Besonderen Regelungen für die Festtage und die Skigebiete» publiziert. Die Kommission empfahl im Wesentlichen, auf bestimmte geplante Verschärfungen der Schutzbestimmungen zu verzichten. Mit knappen Mehrheiten von 11 zu 10 Stimmen empfahl die Kommission den Verzicht auf eine Beschränkung der Gästezahlen in den Skigebieten und den Verzicht auf die Vorgabe, dass Personen einer Gästegruppe in Restaurationsbetrieben aus höchstens zwei Haushalten stammen dürfen. Mit deutlicheren Mehrheiten abgelehnt wurde die Beschränkung der Kapazität in geschlossenen Fahrzeugen in Skigebieten auf zwei Drittel und der Verzicht auf die Vorgabe, dass Personen an privaten Veranstaltungen nur aus zwei Haushalten stammen dürfen. In der Änderung der Verordnung vom 4. Dezember 2020 (AS 2020 5189) folgte der Bundesrat diesen Empfehlungen; nicht stattgegeben wurde einzig dem Begehren der Kommission, Präsenzveranstaltungen in Bildungseinrichtungen bei Vorliegen eines Schutzkonzeptes zu erlauben.

[34]

Die dargestellten beiden Beispiele, aber auch ein Überblick über die übrigen Medienmitteilungen der SGK und der WAK vermitteln den Eindruck, dass die Kommissionen mit ihren Stellungnahmen einen starken Einfluss auf die Beschlussfassung des Bundesrates ausgeübt haben – wobei natürlich in Rechnung gestellt werden muss, dass daneben auch die Stellungnahmen der Kantone und weiterer Interessengruppen auf den Bundesrat eingewirkt haben.

4.

Bilanz: Vermischung der Kompetenzen oder zweckmässige kooperative Gewaltenteilung? ^

[35]

Die Einführung des Konsultationsrechts geht zurück auf eine parlamentarische Initiative des Staatsrechtlers und Ständerats René Rhinow, welche durch einen Gesetzesentwurf der SPK-S vom 15. Februar 1999 umgesetzt wurde (BBl 1999 2761). Der Bundesrat hat vehement gegen diesen Vorschlag opponiert. In seiner Stellungnahme vom 31. März 1999 bezeichnete er diese Lösung als «Meilenstein bezüglich der Umgestaltung der Beziehungen zwischen der Bundesversammlung und dem Bundesrat». Sie würde «zu einer Vermischung der Kompetenzen führen und den Handlungsspielraum des Bundesrates in unannehmbarer Weise einschränken» (BBl 1999 3414). Mit Änderung des Geschäftsverkehrsgesetzes vom 22. Dezember 1999 wurde das Konsultationsrecht zu Verordnungen geschaffen, «die in erheblichem Ausmass ausserhalb der Bundesverwaltung vollzogen» werden (AS 2000 2093). Als mit der Ausarbeitung des ParlG diese Einschränkung fallen gelassen werden sollte, drohte der Bundesrat sogar mit der «Verfassungskeule»: «Eine solche Ausdehnung widerspräche auch der verfassungsrechtlichen Zuweisung der Organisationshoheit über die Bundesverwaltung an den Bundesrat (Art. 178 Abs. 1 BV)» (BBl 2001 5439).

[36]

Die SPK-S hat dieser Kritik ihr Konzept einer kooperativen Gewaltenteilung entgegengehalten (BBl 1999 2767 f.):

«Gestützt auf die neuere Staatsrechtslehre und die Praxis geht die SPK aus von einem Konzept der kooperativen Gewaltenteilung. Parlament und Regierung stehen sich nicht autonom und klar abgetrennt gegenüber, sondern wirken ein auf den Zuständigkeitsbereich der jeweils anderen Gewalt, Es ist selbstverständlich, dass der Bundesrat auf den Zuständigkeitsbereich der Bundesversammlung einwirkt (indem er z.B. in privilegierter Stellung sein Initiativ- und Antragsrecht in der Bundesversammlung wahrnimmt); genauso ist es umgekehrt legitim, wenn die Bundesversammlung, bzw. Mehrheiten ihrer repräsentativ zusammengesetzten Kommissionen auf den Zuständigkeitsbereich des Bundesrates Einfluss nehmen, wenn sie dies in ausgewählten Fällen für zweckmässig erachten. Die Entscheidungskompetenzen und damit die Verantwortlichkeiten müssen dabei klar abgegrenzt bleiben. Dieser Grundsatz wird durch den vorliegenden Vorschlag nicht verletzt: die Kommissionen können im Rahmen einer Konsultation nur rechtlich nicht bindende Stellungnahmen abgeben und nicht direkt auf eine Verordnung einwirken».
[37]

Die Konsultation parlamentarischer Kommissionen zu Verordnungsentwürfen des Bundesrates ist kein Sonderfall. Das Parlamentsrecht kennt verschiedene Formen einer politischen, rechtlich nicht bindenden Mitwirkung der Bundesversammlung an staatlichen Entscheidungsprozessen. Das Konzept der kooperativen Gewaltenteilung zeigt sich insbesondere auch in folgenden weiteren Formen der Mitwirkung, die im ParlG vom 13. Dezember 2002 verankert wurden:

- die Bundesversammlung kann einen «Grundsatz- und Planungsbeschluss» in der Form eines einfachen Bundesbeschlusses oder eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses verabschieden und damit den Bundesrat beauftragen, «bestimmte Ziele anzustreben, Grundsätze und Kriterien zu beachten oder Massnahmen zu planen» (Art. 28 [«Grundsatzentscheide und Planungen»], Art. 143 [«Finanzplan»], Art. 146 [«Legislaturplanung»]);
- die Bundesversammlung kann den Bundesrat mit einer Motion beauftragen, eine Massnahme im Zuständigkeitsbereich des Bundesrates zu treffen (Art. 120 Abs. 2);
- die zuständigen Kommissionen werden im Bereich der Aussenpolitik durch den Bundesrat konsultiert «zu wesentlichen Vorhaben, zu geplanten Änderungen im Bestand der diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Schweiz im Ausland sowie zu den Richt- und Leitlinien zum Mandat für bedeutende internationale Verhandlungen» (Art. 152).
[38]

Allen diesen Formen der parlamentarischen Mitwirkung ist gemeinsam, dass damit in mehr oder weniger starkem Ausmass der Bundesrat politisch, nicht aber rechtlich bindend verpflichtet wird. Der Bundesrat darf vom parlamentarischen Beschluss abweichen, ist aber dafür begründungspflichtig und muss damit rechnen, dass das Parlament später seine Auffassung auf dem Wege der Gesetzgebung oder im Rahmen der Genehmigung eines völkerrechtlichen Vertrages durchsetzt. Allen diesen Formen der parlamentarischen Mitwirkung ist ebenfalls gemeinsam, dass sich der Bundesrat ihrer Einführung vehement widersetzt hat. Wenig Verständnis für den Begriff der «Mitwirkung» zeigt teilweise auch eine Staatsrechtslehre, die sich auf formale, rechtlich bindende Zuständigkeiten konzentriert und das Bedürfnis der Praxis nach informellen, politischen Einflussnahmen verkennt.12 Rund 20 Jahre nach der gesetzlichen Normierung dieser Mitwirkungsrechte darf konstatiert werden, dass die Umsetzungen des Konzepts einer kooperativen Gewaltenteilung kaum mehr bestritten werden und sich in der Praxis bewährt haben. Auch der Bundesrat sieht das heute so. Als Argument gegen die Einführung des Verordnungsvetos weist er in seiner Stellungnahme vom 1. Mai 2019 zur entsprechenden Vorlage der SPK des Nationalrates darauf hin, dass das Parlament «bereits heute über eine breite Palette von Instrumenten [verfügt], um auf die Verordnungsgebung des Bundesrates Einfluss zu nehmen». Zu dieser Palette gehören insbesondere die Motion («Damit steht dem Parlament ein wirkungsvolles Instrument zur Verfügung, um konstruktiv die politischen und rechtlichen Konturen des Verordnungsrechtes zu gestalten») und die Konsultationsrechte der parlamentarischen Kommissionen: Sie «werden gerade dort sehr intensiv genutzt, wo politisch und rechtlich erheblicher Gestaltungsspielraum besteht. […] In der Praxis räumt der Bundesrat diesen Empfehlungen grosse Bedeutung ein und setzt sie um» (BBl 2019 3278 f.).

[39]

Wie die Darstellung der Praxis zeigt (siehe oben, Ziff. 3.1), ist die konkrete Wirkung dieser Empfehlungen nur schwer messbar; der Bundesrat dürfte sie im Kontext der Bekämpfung des Verordnungsvetos eher etwas überschätzt haben. Neben messbaren Erfolgen hat die Kooperation zwischen dem Parlament und dem Bundesrat bzw. seiner Verwaltung aber auch noch einen anderen positiven Wert: Sie bewirkt Lerneffekte sowohl bei den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die auf Probleme bei der Umsetzung der Gesetzgebung aufmerksam werden, als auch bei der Verwaltung, welche die möglichen politischen Implikationen dieser Umsetzung besser wahrnehmen kann (Graf, 2014, Art. 151 N. 27, m. w. H.).


Martin Graf war 1991–2018 Sekretär der Staatspolitischen Kommissionen (SPK), 1996–1999 Sekretär der Verfassungskommissionen der Eidgenössischen Räte.


Materialien ^

  • 96.456 Pa. Iv. Verbesserung der Vollzugstauglichkeit der Massnahmen des Bundes. Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 15. Februar 1999, in: BBl 1999 2761.
  • 96.456 Pa. Iv. Verbesserung der Vollzugstauglichkeit der Massnahmen des Bundes. Stellungnahme des Bundesrates vom 31. März 1999, in: BBl 1999 3411.
  • 01.401 Pa. Iv. Parlamentsgesetz. Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 1. März 2001, in: BBl 2001 3467.
  • 01.401 Pa. Iv. Parlamentsgesetz. Stellungnahme des Bundesrates vom 22. August 2001, in: BBl 2001 5428.

Literatur ^

  1. 1 Diese Unterlagen sind nicht in jedem Fall identisch mit den vom Bundesrat veröffentlichten Unterlagen, falls er ein Vernehmlassungsverfahren zu einem Verordnungsentwurf durchführt. Eine Kommission kann auch zu einem Verordnungsentwurf konsultiert werden, zu welchem kein Vernehmlassungsverfahren durchgeführt wird. Kommissionen werden gelegentlich auch erst nach Abschluss des Vernehmlassungsverfahrens zu einem aufgrund der Ergebnisse dieses Verfahrens überarbeiten Entwurf konsultiert.
  2. 2 Ständerat Wicki meinte am 5. März 2002 im Ständerat: «Die Vertretung des Parlamentes hat einen höheren Stellenwert als irgendwelche Vernehmlassungsteilnehmer.» (AB 2002 S 41).
  3. 3 Diese Anregung wurde bereits im Kontext der Diskussionen über die Einführung eines Verordnungsvetos eingebracht: «Bereits heute darf man aber überlegen, ob man diesen gesetzlichen Rahmen ausbauen könnte – beispielsweise indem man […] die Ergebnisse des Dialogs zwischen Kommission und Bundesrat in die öffentliche Debatte einspeist.» (Wyss 2019, 19)
  4. 4 Der Bundesrat hat zwar in acht Verordnungen, die er vor Inkrafttreten des Covid-19-Gesetzes gestützt auf Art. 185 Abs. 3 BV und/oder das EpG erlassen hat, mit der Mantelverordnung vom 7. Oktober 2020 über die Abstützung der Covid-19-Verordnungen auf das Covid-19-Gesetz (AS 2020 3971) die Ingresse entsprechend geändert. Andere weiter bestehende oder neu erlassene Verordnungen blieben aber weiterhin allein auf das EpG abgestützt (Bsp.: Covid-19-Verordnung besondere Lage, vom 19. Juni 2020, SR 818.101.26; Verordnung über das Proximity-Tracing-System für das Coronavirus Sars-CoV-2, vom 24. Juni 2020, SR 818.101.25) bzw. wurden von Beginn weg ihm allein unterstellt (Bsp.: Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus [Covid-19] im Bereich des internationalen Personenverkehrs vom 23. Juni 2021, SR 818.101.27).
  5. 5 Anders als ein Vetorecht des Parlamentes lässt sich u. E. ein Konsultationsrecht vereinbaren mit der verfassungsunmittelbaren Kompetenz des Bundesrates zum Erlass von Verordnungen, «wenn die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert» (Art. 184 Abs. 3 BV) und «um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder inneren und äusseren Sicherheit zu begegnen» (Art. 185 Abs. 3 BV). Durch die Verpflichtung, vor Erlass einer solchen Verordnung eine Konsultation zu ihrem Entwurf durchzuführen, würde die Kompetenz des Bundesrates nicht eingeschränkt, allerdings könnte die Kompetenz nur mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung wahrgenommen werden. Die BV legt auch in anderen Bereichen Zuständigkeiten fest, deren Ausübung durch gesetzliche Verfahrensbestimmungen näher geregelt und damit u. U. auch faktisch eingeschränkt wird. Z. B. gibt Art. 160 BV jedem Ratsmitglied, jeder Fraktion und jeder Kommission das Initiativrecht; Art. 107 und 109 ParlG legen aber fest, dass nur eine Kommission ihrem Rat unmittelbar einen Erlassentwurf unterbreiten darf, während eine parlamentarische Initiative eines Ratsmitglieds oder einer Fraktion zuerst einer Vorprüfung unterliegt.
  6. 6 Siehe dazu die analogen Überlegungen der SPK-N bei der Ausarbeitung der Regelung für ein Verordnungsveto (BBl 2019 3167). Ob Verordnungen der Departemente auch zum Geltungsbereich von Art. 22 und 151 ParlG gehören, wird sowohl bejaht (Graf 2014, N 24) als auch verneint (Sägesser 2007, 458). Soweit keine Informationspflicht des Bundesrates besteht (der Normalfall von Art. 151 Abs. 2 ParlG) spielt diese Frage keine Rolle, da jede Kommission auch gestützt auf Art. 150 ParlG jede zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendige Information erhalten kann.
  7. 7 Die wünschenswerte Beantwortung dieser Fragen würde eine systematische Auswertung der Kommissionsakten erfordern, was aufgrund der Akteneinsichtsrechte für wissenschaftliche Zwecke (Art. 7 ParlVV; SR 171.115) zwar möglich, aber sehr aufwändig wäre.
  8. 8 Legislaturrückblicke der Räte und der Kommissionen (https://www.parlament.ch/de/%c3%bcber-das-parlament/archiv/legislaturrueckblicke). – Wenig Verständnis und Interesse für eine wissenschaftliche Erfassung des Parlamentsbetriebs zeigten die Verantwortlichen der Parlamentsdienste mit ihrem Entscheid, diese Legislaturrückblicke und damit die darin enthaltenen Statistiken nach 2015 nicht weiterzuführen.
  9. 9 Im Sachbereich der Aussenpolitischen Kommissionen (APK), welche den in beiden Räten bestehenden insgesamt neun Sachbereichskommissionen zugerechnet werden, gibt es nur sehr wenige Verordnungen.
  10. 10 Zusätzlich zu den zur allgemeinen Konsultationspraxis gestellten offenen Fragen stellen sich hier die Fragen, ob der Bundesrat seine Informationspflicht vollumfänglich erfüllt hat und ob Art. 1 Abs. 5 des Covid-19-Gesetzes (Information der Präsidentin oder des Präsidenten in dringlichen Fällen) zur Anwendung gelangt ist. Die Lektüre der Medienmitteilungen vermittelt den Eindruck, dass sich die Kommissionen des Nationalrates intensiver mit diesen Themen befasst haben als diejenigen des Ständerates; dieser Eindruck müsste durch Einsicht in die Kommissionsprotokolle verifiziert werden.
  11. 11 Streng genommen, handelte es sich dabei allerdings nicht um Konsultationen nach Art. 1 des Covid-19-Gesetzes, weil die Covid-19-Verordnung besondere Lage auch nach Inkrafttreten des Covid-19-Gesetzes weiterhin allein auf Art. 6 Abs. 2 EpG abgestützt wurde. In der Praxis wurde aber auch hier Art. 1 Abs. 4 des Covid-19-Gesetzes sinngemäss angewendet.
  12. 12 Tschannen (2016), § 46 Rz. 34: «Dieses Mitwirkungsrecht ist systemfremd». Stattdessen sollte die Bundesversammlung die Delegationsnorm präzisieren oder im Bundesgesetz selber Vollzugsvorschriften aufnehmen. Wie wenig praktikabel diese dogmatische Analyse und Empfehlung von Tschannen ist, zeigt besonders deutlich das Beispiel des Covid-19-Gesetzes und seiner Vollzugsvorschriften (siehe Ziff. 3.2). – Eine positive Würdigung («Konsultationsrecht als konstruktiver Weg») findet sich bei Wyss 2019, 19.

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