Werkstattberichte DOI: 10.38023/6de173f5-aa00-47fd-87fa-93c92b843c15

Auslegung und Gestaltung von Formvorschriften: Neuer Leitfaden des Bundesamtes für Justiz

Christoph Jenni
Christoph Jenni
Christoph Bloch
Christoph Bloch

Zitiervorschlag: Christoph Jenni / Christoph Bloch, Auslegung und Gestaltung von Formvorschriften: Neuer Leitfaden des Bundesamtes für Justiz, LeGes 35 (2024) 2

Der digitale Wandel stellt traditionelle Verwaltungsverfahren vor neue Herausforderungen. Dies gilt besonders für den Umgang mit Formvorschriften wie der Schriftlichkeit oder der Unterschrift. Ein neuer Leitfaden des Bundesamtes für Justiz bietet konkrete Empfehlungen, wie Formvorschriften flexibel ausgelegt und digitalisierungsfreundlich gestaltet werden können, um sowohl rechtssichere als auch effiziente Prozesse in der Bundesverwaltung zu ermöglichen. Der folgende Beitrag stellt die zentralen Aussagen des Leitfadens vor.


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

[1]

Zahlreiche Erlasse des Bundes enthalten Vorschriften, die die Einhaltung bestimmter Formen wie z.B. der «Schriftlichkeit» oder der «Unterschrift» vorschreiben. Viele dieser Formvorschriften stammen noch aus der Zeit der papierbasierten Verwaltung. Sie ermöglichten rechtssichere und effiziente Verwaltungsverfahren, und sie brachten Ordnung und Struktur in Verwaltungsabläufe.

[2]

Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung der Verwaltung stellt sich immer wieder die Frage, ob und wie bestehende Formvorschriften geändert werden müssen. Traditionelle Formvorschriften werden nämlich teilweise als Hindernis für die elektronische Abwicklung von Geschäften betrachtet. Der Bundesrat hat zu diesem Thema den Bericht zur Überprüfung der Formvorschriften im öffentlichen Recht vom 10. Juni 2022 veröffentlicht.1 Darin wird aufgezeigt, dass über 1700 Bestimmungen des Bundesrechts eine schriftliche Form verlangen. Diese Bestimmungen gehören mehrheitlich zum öffentlichen Recht und verteilen sich auf insgesamt 390 Erlasse des Bundes. Der Bericht betont, dass die Frage, ob diese zahlreichen Formvorschriften ein Hindernis für die Digitalisierung darstellen, komplex ist und nicht pauschal beantwortet werden kann. Es kommt vielmehr auf den jeweiligen Einzelfall an.

[3]

Der Bundesrat beauftragte in der Folge das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), ein Hilfsmittel zur Auslegung und Gestaltung von Formvorschriften zu erarbeiten. Der Leitfaden zur Auslegung und Gestaltung von Formvorschriften des öffentlichen Rechts des Bundes wurde am 19. September 2023 auf der Webseite des Bundesamts für Justiz in drei Sprachen veröffentlicht.2 Er soll insbesondere die Rechtsdienste der Ämter im Vollzug wie auch im Rahmen von Erlassrevisionen unterstützen. Im Folgenden werden die zentralen Aussagen des Leitfadens wiedergegeben.

[4]

Das insgesamt 15 Seiten umfassende Dokument baut auf folgendem Gedankengang auf: Im öffentlichen Recht des Bundes ergibt sich aufgrund der Abwesenheit einer Legaldefinition der Schriftlichkeit eine gewisse Flexibilität. In einem ersten Schritt sollten deshalb mittels Auslegung die vorhandenen Spielräume des geltenden Rechts identifiziert werden, bevor eine übereilte Revision an die Hand genommen wird (siehe Ziff. 2 Leitfaden). Der Leitfaden zeigt auf, dass jedenfalls die Grundordnung des Verwaltungsverfahrensgesetzes einige Flexibilität ermöglicht (Ziff. 3) und welche Gesichtspunkte bei der Auslegung von spezialgesetzlichen Formvorschriften wegleitend sein können (Ziff. 4). Erst wenn sich ergibt, dass eine bestimmte Formvorschrift eine effiziente (digitale oder papierbasierte) Geschäftsabwicklung verhindert, sollte eine Revision in Betracht gezogen werden. Für diesen Fall enthält der Leitfaden konkrete Empfehlungen und Beispiele zur Gestaltung von Formvorschriften für digitale Abläufe (Ziff. 5). Das Dokument schliesst mit kursorischen Hinweisen zur Verwendung von Formularen wie z.B. Online-Eingabemasken ab (Ziff. 6).

2. Überblick über die Formvorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes

[5]

Der Leitfaden rekapituliert zunächst die Formvorschriften, die für förmliches Verwaltungshandeln zu beachten sind (siehe dort Ziff. 3). Generell lässt sich sagen, dass die Grundordnung des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVG; SR 172.021) den Parteien und Behörden einige Flexibilität einräumt.

  • Für Eingaben der Parteien besteht kein allgemeines, systematisches Schriftlichkeits- oder gar Unterschriftserfordernis (Art. 21 VwVG). Vorbehalten bleiben besondere Formvorschriften, wie sie insbesondere für elektronische Dokumente gelten (siehe Art. 6 Verordnung über die elektronische Übermittlung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens [VeÜ-VwV; SR 172.021.2]). Interessanterweise ist das Erfordernis einer qualifizierten elektronischen Signatur eher die Ausnahme als die Regel. Diese ist nämlich nicht erforderlich, wenn die Identifizierung der Absenderin oder des Absenders und die Integrität der Daten in anderer geeigneter Weise sichergestellt sind. Ausgenommen sind Fälle, in denen das Bundesrecht vorschreibt, dass ein Dokument unterschrieben wird, wie dies z.B. für Beschwerdeschriften (Art. 52 Abs. 1 VwVG) der Fall ist. In diesem Fall ist eine qualifizierte elektronische Signatur erforderlich (siehe Art. 21a Abs. 2 VwVG, Art. 6 Abs. 1 VeÜ-VwV; siehe ferner die Hinweise auf die Fachliteratur im Leitfaden, S. 4 f.).
  • Für die Gültigkeit von Verfügungen der Behörden verlangt das VwVG die Schriftlichkeit (Art. 34 VwVG), jedoch nicht zwingend die eigenhändige Unterschrift eines Behördenmitglieds. Für die elektronische Eröffnung von Verfügungen gelten wiederum besondere Vorschriften, die der Leitfaden erläutert (siehe Leitfaden, Ziff. 4 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).
[6]

Beim Verwaltungsverfahren zeichnen sich künftig einige Änderungen ab. So sieht das Bundesgesetz über die Plattformen für die elektronische Kommunikation in der Justiz (E-BEKJ; BBl 2023 680)3 eine Anpassung von Artikel 21a und Artikel 52 VwVG vor. Damit fielen die Signaturanforderungen für Private weg, wenn der Benutzer Dokumente über die entsprechende Plattform nach Artikel 6a VwVG in der Fassung gemäss E-BEKJ eingibt.4

3. Auslegung und Anwendung von spezialgesetzlichen Formvorschriften

[7]

Der Auslegung von Formvorschriften, die sich in den Sacherlassen des Bundes finden, widmet sich Ziffer 4 des Leitfadens. Diese zahlreichen Bestimmungen konkretisieren oder derogieren zum Teil die allgemeinen Vorgaben des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Zum anderen Teil regeln die spezialgesetzlichen Vorschriften Abläufe, welche nicht in den Geltungsbereich des VwVG fallen (z.B. Meldeverfahren).

[8]

Der Leitfaden zeigt auf, welche Gesichtspunkte bei der Auslegung von spezialgesetzlichen Formvorschriften zu berücksichtigen sind. Auf begrifflicher Ebene lässt sich generell sagen, dass Ausdrücke wie «schriftlich» in öffentlichrechtlichen Erlassen des Bundes nicht automatisch auf die «einfache Schriftlichkeit» des Obligationenrechts schliessen lassen (vgl. Art. 13 und 14 Abs. 2bis OR). Oftmals bedeutet dies nur, dass die mündliche Form oder stillschweigende Erklärungen ausgeschlossen sind. Anders kann es sich beispielsweise mit verwaltungsrechtlichen Verträgen verhalten, wo gemäss Rechtsprechung und Lehre die einfache Schriftlichkeit im Sinn des OR zu beachten ist (siehe Leitfaden Ziff. 4.1 Bst. a).

[9]

Weitere Hinweise betreffen die Auslegung des Begriffs «Unterschrift»: Nach Auffassung des Bundesamtes für Justiz ergibt sich aus diesem Begriff nicht automatisch, dass stets die eigenhändige Unterschrift, auf Papier und im Original, vorliegen muss. Vielmehr ist durch Auslegung zu ermitteln, ob auch elektronische Signaturen zulässig sind. Die Beschränkung auf Handunterschriften setzt gemäss Ziffer 4.1 Buchstabe c des Leitfadens eine ausdrückliche Vorgabe oder eine qualifizierte Begründung aufgrund anderer Auslegungselemente voraus. Ein Beispiel für eine solche Bestimmung findet sich in Artikel 61 Absatz 1 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (BPR, SR 161.1) betreffend die Unterschriften zum fakultativen Referendum («eigenhändige Unterschrift»).

[10]

Oft ist bei der Auslegung von Formvorschriften die Frage nach dem Normzweck entscheidend. Die konkreten Anforderungen und Schutzvorkehrungen variieren je nach Anwendungsfall. Der Leitfaden beschreibt die verschiedenen Zwecke von Formvorschriften für papierbasierte und digitale Geschäftsabläufe wie namentlich die Fixierung von Informationen («Verschriftlichung»), den Schutz der Integrität und der Authentizität von Dokumenten mittels Handunterschrift oder elektronischer Signatur oder den Übereilungsschutz (siehe dazu Ziff. 4.2 Bst. a-f des Leitfadens).

4. Hinweise zur Gestaltung von Formvorschriften

[11]

Rechtsänderungen sollten, wie hiervor erwähnt, nur erfolgen, wenn eine geltende Formvorschrift bei fachgerechter Auslegung den heutigen Bedürfnissen und Gegebenheiten nicht entspricht, insbesondere wenn sie einer durchgehend digitalen Geschäftsabwicklung entgegensteht. Für diese Fälle enthält der Leitfaden verschiedene Leitgedanken zur Konzeptionierung von «digitalisierungsfreundlichen» Formvorschriften (siehe dort Ziff. 5), wovon die nachfolgenden drei hervorgehoben seien:

  • Erstens gilt es, das erforderliche Schutzniveau bewusst festzulegen. Ist z.B. das Missbrauchs- oder Betrugsrisiko tief, kann auf eine Authentifizierung der Partei (z.B. mittels qualifizierter elektronischer Signatur) verzichtet werden. Eine derartige Abwägung findet sich z.B. im neuen Zollrecht, wenn es um die E-Vignette für die Autobahn geht (vgl. Art. 75 E-BAZG-Vollzugsaufgabengesetz, BBl 2022 2725;5 für weitere Normbeispiele siehe Ziff. 5.1 des Leitfadens).
  • Zweitens sind digitale Abläufe zu ermöglichen und zu fördern. Die Behörden sollten soweit möglich und sinnvoll einen elektronischen Kanal anbieten. Fraglich ist, ob parallel dazu auch weiterhin ein Papierweg bestehen muss. Als Faustregel gilt: Für Unternehmen können elektronische Kanäle obligatorisch erklärt werden, wogegen für die allgemeine Bevölkerung herkömmliche Zugänge beizubehalten sind. Es gilt, die Diskriminierung von Personen zu verhindern (vgl. Ziff. 5.2 des Leitfadens).
  • Drittens sind die Konsequenzen bei Verstössen gegen die Formvorschrift zu klären. Handelt es sich um eine Ordnungsvorschrift, oder hängt die Gültigkeit einer Eingabe oder Erklärung von der Form ab? Oder wird eine Eingabe technisch verhindert, indem die Plattform bei Formfehlern einen Vorgang nicht zulässt? So sieht z.B. das E-BEKJ vor, dass die Plattform behördliche Zustellungen nicht entgegennimmt, wenn das vorgeschriebene geregelte elektronische Siegel oder der qualifizierte elektronische Zeitstempel nach dem Bundesgesetz über die elektronische Signatur (ZertES, SR 943.03) fehlen (Art. 22 Abs. 2 E-BEKJ; für andere Beispiele siehe Ziff. 5.5 des Leitfadens).
[12]

Weitere Hinweise betreffen Alternativen zur – kaum etablierten – qualifizierten elektronischen Signatur nach ZertES. Dazu gehört beispielsweise die Authentifizierung gegenüber einem Informationssystem (siehe Ziff. 5.3 des Leitfadens). Ferner legt der Leitfaden dar, wieso der Begriff «Nachweis durch Text» vermieden werden sollte (siehe Ziff. 5.4). Das Dokument schliesst mit kursorischen Hinweisen zur Verwendung von elektronischen oder papierförmigen Formularen (z.B. Online-Eingabemasken, siehe Ziff. 6).


Dr. iur. Christoph Jenni, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Rechtsetzungsprojekte II, Bundesamt für Justiz.

Christoph Bloch, Rechtsanwalt, Leiter des Fachbereichs Rechtsetzung in Digitalisierungsfragen, Bundesamt für Justiz.


  1. 1 Siehe www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Publikationshinweis vom 10. Juni 2022 zum Bericht Formvorschriften öffentliches Recht.
  2. 2 Siehe www.bj.admin.ch > Staat & Bürger > Legistik > Legistische Hauptinstrumente.
  3. 3 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrages ist das E-BEKJ für die Beratung im Ständerat (Zweitrat) vorgesehen; zum aktuellen Stand siehe www.parlament.ch Geschäfte Geschäftsnummer 23.022.
  4. 4 Für weitere Informationen zum E-BEKJ sowie zur parlamentarischen Beratung siehe etwa Karl-Marc Wyss/Christoph Jenni/Stephan Jau, Justitia im Bundeshaus 2022/23, Übersicht über die parlamentarischen Geschäfte und Gesetzgebungsprojekte betreffend das Gerichtswesen in den Jahren 2022 und 2023, Ziff. 8, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2024/1.
  5. 5 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrages wird das E-BAZG-Vollzugsaufgabengesetz von der vorberatenden Kommission des Ständerates (Zweitrat) behandelt; zum aktuellen Stand siehe www.parlament.ch Geschäfte Geschäftsnummer 22.058.
Zurück Weiter PDF