Contributions scientifiques DOI: 10.38023/bab0e9e6-0792-4f1d-8515-2def1b48a051

Die Auswirkungen der unterschiedlichen Inhalte der bilateralen Abkommen auf die Übernahme von EU-Recht

Dargestellt an den Beispielen des Luftverkehrsabkommens und der Schengen/Dublin-Abkommen

Marco Urban
Marco Urban
Vijitha Fernandes-Veerakatty
Vijitha Fernandes-Veerakatty

Proposition de citation: Marco Urban / Vijitha Fernandes-Veerakatty, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Inhalte der bilateralen Abkommen auf die Übernahme von EU-Recht, in : LeGes 36 (2025) 1

Comment les différences de contenu entre les accords bilatéraux conclus entre la Suisse et l’Union européenne influencent-elles la reprise du droit de l’UE par la Suisse ? Le présent article examine cette question à travers l’exemple de l’accord sur le transport aérien et des accords d’association à Schengen et Dublin. Les auteurs montrent que les procédures de reprise du droit de l’UE prévues par ces accords bilatéraux varient, de sorte que les mesures à adopter par le législateur suisse pour s’y conformer diffèrent également. Ils constatent toutefois que, malgré ces différences, des questions similaires se posent pour le législateur dès lors qu’il s'agit de transposer le droit repris dans l’ordre juridique interne.


Table des matières

1. Einleitung

[1]

Es ist häufig festzustellen, dass neue Bestimmungen oder Änderungen im schweizerischen Recht ihren Ursprung in einer Weiterentwicklung des EU-Rechts haben.1 Die Anwendung des EU-Rechts ist für die Schweiz grundsätzlich sogar zwingend, wenn dies in einem bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU vorgesehen ist. In einem solchen Fall kann es notwendig sein, das bestehende innerstaatliche Recht zu ändern und/oder neue rechtliche Bestimmungen zu schaffen, um der völkerrechtlichen Verpflichtung nachzukommen. Die Tätigkeit des schweizerischen Gesetzgebers unterliegt dabei einer doppelten Regulierung: Zum einen muss er die verfassungsrechtlichen Anforderungen berücksichtigen, die für seine Tätigkeit bei der Ausarbeitung und Verabschiedung des innerstaatlichen Rechts gelten. Zum anderen muss er die internationalen Verpflichtungen beachten, die der Schweiz durch die bilateralen Abkommen für die Anwendung des EU-Rechts auferlegt werden.

[2]

Der vorliegende Beitrag untersucht die Frage, wie die unterschiedlichen Inhalte der bilateralen Abkommen sich auf die Tätigkeit des Schweizer Gesetzgebers auswirken, wenn er in Anwendung des jeweiligen Abkommens EU-Recht übernehmen muss. Es soll aufgezeigt werden, welche rechtlichen Prüfungen der Gesetzgeber je nach inhaltlicher Vorgabe vornehmen muss und welche weiteren Massnahmen zu greifen sind, um das EU-Recht korrekt und fristgerecht zu übernehmen. Inhaltlich massgeblich sind dabei alle Bestimmungen des Abkommens, die dem Gesetzgeber Vorgaben für die Übernahme und Anwendung des EU-Rechts machen.

[3]

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sind einige Erläuterungen zum in diesem Beitrag verwendeten Vokabular und zu unserem Forschungsrahmen erforderlich. Zunächst einmal: unser Beitrag verwendet den Begriff der «Übernahme», um den Mechanismus zu bezeichnen, der darauf abzielt, die Anwendbarkeit des EU-Rechts in der Schweiz gemäss einer Verpflichtung aus einem bilateralen Abkommen mit der EU herbeizuführen. Zu diesem Zweck muss der Gesetzgeber gegebenenfalls legislatorisch tätig werden und das betreffende EU-Recht im innerstaatlichen Recht umsetzen. Dabei umfasst der Begriff «Gesetzgeber» sämtliche Akteure, die an der Ausarbeitung und Verabschiedung des innerstaatlichen Rechts auf Bundesebene beteiligt sind. Erfasst sind damit sowohl die Bundesverwaltungsämter, die den Übernahmebeschluss sowie die rechtliche Umsetzung ins innerstaatliche Recht erarbeiten, als auch, je nach Kompetenz, die Bundesversammlung bzw. der Bundesrat, die für die Genehmigung der Übernahme und deren rechtliche Umsetzung zuständig sind. Schliesslich ist festzuhalten, dass die Frage, die Gegenstand unseres Beitrags ist, im Zusammenhang mit verschiedenen bilateralen Abkommen untersucht werden kann, da die zahlreichen Abkommen, welche die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU regeln, inhaltlich sehr unterschiedlich sind. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Frage an den Beispielen des Luftverkehrsabkommens (sog. Binnenmarktabkommen) und die Abkommen zu Schengen/Dublin (sog. Assoziierungsabkommen), da diese Abkommen die Schweiz verpflichten, in erheblichem Umfang laufend EU-Recht zu übernehmen. Inhaltlich ist das Luftverkehrsabkommen jedoch anders ausgestaltet als die Abkommen zu Schengen/Dublin. An diesen Abkommen lässt sich daher sehr gut illustrieren, wie unterschiedlich die Verfahren zur Übernahme von EU-Recht sein können, obwohl die Abkommen in Bezug auf Umfang und Intensität der Übernahme ähnliche Herausforderungen beinhalten.

2. Das Luftverkehrsabkommen

2.1. Besonderheit des Luftverkehrsabkommens

[4]

Das Luftverkehrsabkommen (SR 0.748.127.192.68) ist ein Binnenmarktabkommen, das den Zugang von Schweizer Fluggesellschaften zum Luftverkehrsmarkt in der EU auf der Grundlage des Gegenseitigkeitsprinzips regelt, d.h. unter Gewährung gleicher Rechte und Bedingungen.2 Zu diesem Zweck hat sich die Schweiz verpflichtet, die Gesetzgebung der EU zum Luftverkehrsrecht, die in den Anwendungsbereich des Abkommens (gem. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 und Art. 32) fällt, zu übernehmen (Art. 23) und dessen Anwendung auf dem Gebiet der Schweiz sicherzustellen (Art. 18). Die Botschaft des Bundesrates zu diesem Abkommen betont den «aussergewöhnlichen Charakter» seines Inhalts, welcher «die Gesamtheit der anwendbaren Bestimmungen der EU in diesem Bereich in gemeinsame Regeln der Vertragsparteien überführt» (Bundesrat 1999, 6158). Theoretisch lässt das Abkommen der Schweiz die Möglichkeit offen, eine Weiterentwicklung des EU-Rechts nicht zu übernehmen (Dettling-Ott 2007, 496–498). In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die Schweiz de facto kaum die Möglichkeit hat, die Übernahme eines solchen Rechtsakts nicht zu akzeptieren (Dettling-Ott 2012, 11). Schliesslich sieht das Abkommen vor, dass die Parteien alle Massnahmen ergreifen müssen, die geeignet sind, um die Erfüllung der darin vorgesehenen Verpflichtungen sicherzustellen, und gleichzeitig keine Schritte ergreifen dürfen, die die Verwirklichung seiner Ziele behindern (Art. 17).

[5]

Das von der Schweiz übernommene EU-Recht findet sich im Anhang zum Luftverkehrsabkommen. Dieser Anhang wird häufig vom Gemischten Ausschuss des Abkommens (Art. 23 Abs. 4), der sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Schweiz und der EU zusammensetzt und für die Verwaltung und die ordnungsgemässe Anwendung dieses Abkommens zuständig ist (Art. 21), geändert, um entweder neue EU-Rechtsakte aufzunehmen oder Entwicklungen im Zusammenhang mit bereits aufgenommenen EU-Rechtsakten zu berücksichtigen (durch Streichung oder Anpassung). Es ist jedoch zu beachten, dass die Schweiz an den Arbeiten der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) mitwirken kann, auch wenn sie nicht über ein Stimmrecht wie die EU-Mitgliedstaaten verfügt (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2013, 5–6). Die Schweiz nimmt nämlich im EASA-Ausschuss (EASA Committee) teil und kann auf diese Weise sowohl bei der Rechtsvorbereitung auf der Stufe der EASA wie auch auf Stufe der Europäischen Kommission auf den Wortlaut und Inhalt von künftigen Regelungen im Bereich des Luftverkehrs Einfluss nehmen (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2013, 7–18; Dettling-Ott 2012, 11–12). Gemäss der Botschaft des Bundesrates enthält der Anhang des Abkommens alle Bestimmungen des EU-Rechts, die für die Schweiz entweder direkt anwendbar oder umzusetzen sind (Bundesrat 1999, 6259). Die Schweiz ist verpflichtet, die Rechtsakte der EU anzuwenden, sobald sie im Anhang des Abkommens aufgenommen werden. Die Botschaft führt in diesem Zusammenhang aus, dass Bestimmungen der EU-Verordnungen grundsätzlich direkt Anwendung finden, während die EU-Richtlinien eine Umsetzung im innerstaatlichen Recht erfordern (Bundesrat 1999, 6259).

[6]

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts bestätigt und präzisiert diese Elemente. Aufgrund des in der Schweiz vorherrschenden monistischen Systems sind die Bestimmungen der im Anhang des Luftverkehrsabkommens aufgeführten EU-Rechtsakte in der Schweiz direkt anwendbar, wenn sie die Voraussetzungen für die direkte Anwendbarkeit erfüllen (BGE 138 II 42 E. 3.1; Urteil 2C_950/2012 vom 8. August 2013 E. 2.2; BGE 144 II 376 E. 9.4.1). Um im Einzelfall direkt anwendbar zu sein, müssen die EU-Vorschriften hinreichend konkretisiert sein (sog. «self-executing»-Bestimmungen), und keiner besonderen Umsetzung ins nationale Recht mehr bedürfen (BGE 138 II 42 E. 3.1; Urteil 2C_950/2012 vom 8. August 2013 E. 2.2).3 Gemäss dem Bundesgericht fehlt es an der entsprechenden Bestimmtheit (Konkretheit), wenn Normen, die eine Materie nur in Umrissen regeln, dem Vertragsstaat einen beträchtlichen Ermessens- und Entscheidungsspielraum zubilligen oder blosse Leitgedanken enthalten, die sich damit nicht an die Verwaltungs- und Justizbehörden, sondern an den Gesetzgeber richten (BGE 138 II 42 E. 3.1). In diesem Fall sind nationale Umsetzungs- und Ausführungsregelungen erforderlich; sie dürfen jedoch weder dem Sinn und Zweck des Abkommens widersprechen noch dessen Wirksamkeit vereiteln (BGE 138 II 42 E. 3.1).

2.2. Konsequenzen für den Gesetzgeber

[7]

Eine Besonderheit des Luftverkehrsabkommens liegt in der Verpflichtung der Schweiz, EU-Rechtsakte anzuwenden, sobald sie im Anhang des Abkommens aufgenommen werden. Dieser Umstand hat natürlich Konsequenzen für die Tätigkeit des schweizerischen Gesetzgebers. Dieser muss sicherstellen, dass die Rechte und Pflichten aus den aufgeführten EU-Rechtsakten zum Zeitpunkt der Aufnahme in den Anhang des Abkommens in der Schweiz gelten und korrekt angewendet werden.

[8]

In der Praxis gilt somit, dass, wenn die EU einen Rechtsakt ändert oder erlässt, dessen Aufnahme im Anhang des Abkommens vorgesehen ist, der Gesetzgeber bestimmen muss, wie dieser Rechtsakt in der Schweiz angewendet wird. Der Gesetzgeber muss sich dabei die Frage stellen, ob der Rechtsakt direkt anwendbar ist (self-executing) oder seine Anwendung eine Änderung des innerstaatlichen Rechts bedarf. Diese Überlegung muss vor der Aufnahme des EU-Rechtsakts in den Anhang erfolgen, da ab dem Inkrafttreten des Beschlusses zur Änderung des Anhangs der Rechtsakt für die Schweiz unter den gleichen Bedingungen gilt wie in der EU. Die Beurteilung der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit setzt daher voraus, dass der Gesetzgeber den zu übernehmenden EU-Rechtsakt sorgfältig prüft und sich mit den Besonderheiten des EU-Rechts vertraut macht.

[9]

In einem ersten Szenario kann der Gesetzgeber zum Schluss kommen, dass der Inhalt des zu übernehmenden EU-Rechtsakts ausreichend präzise und detailliert ist, um direkt anwendbar zu sein, und daher keine Umsetzung in innerstaatliches Recht erfordert. In diesem Fall kann dieser Akt, sobald er in den Anhang des Abkommens aufgenommen wird, direkt für die Schweiz angewendet werden. Der Gesetzgeber muss jedoch sicherstellen, dass das innerstaatliche Recht keine Bestimmungen enthält, die im Widerspruch zum Inhalt des unmittelbar anwendbaren EU-Rechtsakts stehen. Die Anwendbarkeit des EU-Rechts setzt voraus, dass die Schweiz keine Bestimmungen in Kraft treten lässt, die die Anwendung der Rechte und Pflichten verhindern, die in dem zu übernehmenden EU-Rechtsakt vorgesehen sind.

[10]

Die Entscheidung des Gesetzgebers, das EU-Recht nicht ins innerstaatliche Recht umzusetzen, kann grundsätzlich von einer Justizbehörde überprüft werden. In zwei Fällen hat sich das Bundesgericht zur Rechtmässigkeit einer solchen Entscheidung des Gesetzgebers geäussert und in beiden Fällen festgestellt, dass der Gesetzgeber zu Recht keine rechtliche Umsetzung vorgesehen hat (BGE 138 II 42 E. 4.2.3; BGE 144 II 376 E. 9.4.1).

[11]

In einem zweiten Szenario kann der Gesetzgeber zu dem Schluss kommen, dass die Übernahme eines Rechtsakts der EU die Umsetzung ins innerstaatliche Recht erfordert. In diesem Fall muss er die betroffenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften identifizieren und bestimmen, inwieweit deren Inhalte geändert werden müssen. Es versteht sich von selbst, dass der Gesetzgeber bei der Umsetzung des EU-Rechts auch die verschiedenen Anforderungen berücksichtigen muss, die bei der innerstaatlichen Rechtsetzung zu beachten sind. So muss er beispielsweise festlegen, auf welcher Rechtsetzungsebene (Bundesgesetz oder Verordnung?) die Umsetzung erfolgen soll.

[12]

Im zweiten Szenario wird der Gesetzgeber offensichtlich mit einem weitaus grösseren Arbeitsaufwand konfrontiert sein. Zur Veranschaulichung des Umfangs der in diesem Szenario zu leistenden Arbeit kann auf die Anstrengungen des schweizerischen Gesetzgebers im Zusammenhang mit der Übernahme des EU-Rechts zur Regelung unbemannter Luftfahrzeuge verwiesen werden.

2.3. Beispiel: Regelung für unbemannte Luftfahrzeuge

2.3.1. Beschluss Nr. 1/2022 des Gemischten Ausschusses des Luftverkehrsabkommens

[13]

Mit der Verordnung (EU) 2018/1139 über gemeinsame Vorschriften für die Zivilluftfahrt (ABl. L 212 vom 22.8.2018, S. 1–122) hat die EU die Grundlagen für die Entwicklung eines Rechtsrahmens für den Einsatz und den Betrieb unbemannter Luftfahrzeuge (auch Unmanned Aircraft System, kurz UAS genannt) geschaffen. Auf der Grundlage dieser Verordnung hat die EU im Jahr 2019 ein erstes Regelungspaket verabschiedet, bestehend aus der Delegierten Verordnung (EU) 2019/945 (ABl. L 152 vom 11.6.2019, S. 1–40) und der Durchführungsverordnung (EU) 2019/947 (ABl. L 152 vom 11.6.2019, S. 45–71), die den Einsatz unbemannter Luftfahrzeuge näher regeln. Im Jahr 2021 verabschiedete die EU dann ein zweites Regelungspaket zur Regulierung der Lufträume für den unbemannten Luftverkehr (U-Space-Lufträume). Dieses zweite Paket besteht aus drei Durchführungsrechtsakten: der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 (ABl. L 139 vom 23.4.2021, S. 161–183), der Durchführungsverordnung (EU) 2021/665 (ABl. L 139 vom 23.4.2021, S. 184–186) und der Durchführungsverordnung (EU) 2021/666 (ABl. L 139 vom 23.4.2021, S. 187–188).

[14]

Alle diese Rechtsakte der EU wurden mit dem Beschluss Nr. 1/2022 des Gemischten Ausschusses des Luftverkehrsabkommens (im Folgenden Beschluss Nr. 1/2022) vom 24. November 2022 in den Anhang aufgenommen, der mit Wirkung vom 1. Januar 2023 in Kraft getreten ist (AS 2023 45). Bereits vor ihrer Aufnahme in den Anhang des Luftverkehrsabkommens musste sich der schweizerische Gesetzgeber fragen, wie diese Rechtsakte der EU in der Schweiz Anwendung finden sollen. Für das erste Regelungspaket hat er eine Totalrevision der Verordnung des UVEK über Luftfahrzeuge besonderer Kategorien (VLK, SR 748.941) vorgenommen, die am 1. Januar 2023 (Art. 44 VLK), und damit gleichzeitig mit dem Beschluss Nr. 1/2022 in Kraft getreten ist. Bestimmte Elemente des zweiten Regelungspaket führten dann zu einer Teilrevision verschiedener Verordnungen des Bundesrates sowie der VLK (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2024, 2).

[15]

Anhand der VLK lässt sich beispielhaft veranschaulichen, wie der Gesetzgeber vorgeht, wenn er EU-Recht ins innerstaatliche Recht umsetzt.

2.3.2. Verordnung des UVEK über Luftfahrzeuge besonderer Kategorien (VLK)

[16]

Im Folgenden werden einige Bestimmungen der VLK aufgeführt, die die Entscheidungen des Gesetzgebers illustrieren, die er treffen musste im Zusammenhang mit der Umsetzung des EU-Rechts zum Betrieb und Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen. Obwohl diese Beispiele die VLK betreffen, veranschaulichen sie die Schwierigkeiten, die sich dem Gesetzgeber bei der Umsetzung von EU-Recht generell stellen.

[17]

Für die Übernahme der EU-Regelungspakete betreffend den Betrieb und Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen musste der Gesetzgeber zunächst den innerstaatlichen Rechtsakt identifizieren, der Gegenstand der Umsetzung des EU-Rechts sein sollte, nämlich die VLK. In diesem Zusammenhang hatte er auch zu entscheiden, ob diese Verordnung einer vollständigen oder teilweisen Überarbeitung unterzogen werden soll. Eine Totalrevision eines Rechtsakts erfolgt in der Regel, wenn die Änderung mehr als die Hälfte der Artikel betrifft, wenn formale Anpassungen (terminologischer oder struktureller Art) im gesamten Rechtsakt erforderlich sind oder wenn die geplante Änderung schlecht in die bestehende Struktur passt, die dann überarbeitet werden muss (Bundeskanzlei 2024, Ziff. 276). Im Rahmen der Umsetzung des ersten EU-Regelungspakets hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen für eine Totalrevision als erfüllt erachtet. Diese Option wurde wahrscheinlich bevorzugt, da viele Bestimmungen der VLK gestrichen oder angepasst werden mussten, weil ihr Regelungsgehalt nun durch das EU-Recht abgedeckt war. Das zweite EU-Regelungspaket führte nur zu einer Teilrevision der VLK, da in diesem Fall nur der Inhalt der neuen Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 berücksichtigt werden musste und entsprechend nicht viele Bestimmungen angepasst werden mussten (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2024, 2). Die wichtigste Änderung der VLK in Hinblick auf die Übernahme des zweiten Pakets war die Aufnahme eines neuen Ab-schnitts 3a zur Präzisierung der Regeln für den U-Space-Luftraum.

[18]

Es ist auch interessant festzustellen, dass die Beziehung zwischen der VLK und dem EU-Recht an zwei Stellen der Verordnung erwähnt wird. Zum einen wird in der Präambel nach den Verweisen auf die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen, auf denen die VLK beruht, die Formulierung «in Ausführung» der im Anhang des Luftverkehrsabkommens aufgeführten EU-Rechtsakte, die die Nutzung unbemannter Luftfahrzeuge regeln, eingefügt. Zum anderen sieht Art. 22 Abs. 1 VLK vor, dass unbemannte Luftfahrzeuge «in erster Linie» (Buchstabe a) den Rechtsakten der EU und «ergänzend» (Buchstabe b) den Bestimmungen der VLK unterliegen. So zielt der Inhalt der VLK über unbemannte Luftfahrzeuge im Wesentlichen darauf ab, die Rechtsakte der EU zu ergänzen, insbesondere wenn Elemente nicht oder nicht ausreichend genug von der EU geregelt wurden.

[19]

Des Weiteren zeigen die Umsetzungsbestimmungen in der VLK auf, wie der Gesetzgeber das EU-Recht konkret ausgeführt hat. Dabei lassen sich zum einen Bestimmungen identifizieren, die der Gesetzgeber einführen musste, um die Anwendung der in den Rechtsakten der EU enthaltenen Rechte und Pflichten in der Schweiz zu gewährleisten. Zum anderen gibt es Bestimmungen, mit denen der Gesetzgeber einen ihm durch das EU-Recht eingeräumten Handlungsspielraum genutzt hat, um im nationalen Recht eine spezifische Regelung vorzusehen. Um diese beiden Kategorien von Bestimmungen zu identifizieren und eine entsprechende Umsetzung bzw. Regelung erfolgreich durchzuführen, ist es erforderlich, dass der Gesetzgeber das einschlägige EU-Recht sorgfältig prüft.

[20]

Für die erste Kategorie von Bestimmungen kann z.B. auf Art. 36 VLK verwiesen werden. Diese Bestimmung sieht vor, dass das Bundesamt für Zivilluftfahrt die zuständige Behörde im Sinne von Art. 18 der Durchführungsverordnung (EU) 2019/947 (Art. 36 Buchstabe a VLK) und von Art. 18 der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 (Art. 36 Buchstabe b VLK) ist. Art. 36 Buchstabe a VLK wurde einführt, um die in Art. 17 der Durchführungsverordnung (EU) 2019/947 vorgesehene Pflicht einzuhalten, dass die Staaten eine Behörde zu benennen haben, die die in Art. 18 der Verordnung vorgesehenen Aufgaben wahrnimmt. Art. 36 Buchstabe b VLK wurde eingeführt, um klarzustellen, dass das Bundesamt für Zivilluftfahrt auch für die in Art. 18 der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 vorgesehenen Aufgaben die zuständige Behörde ist (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2024, 6). In ähnlicher Weise kann auch auf Art. 29e VLK verwiesen werden, der Art. 5 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 konkretisiert, wonach die Staaten bestimmte Daten im Rahmen der gemeinsamen U-Space-Luftrauminformationsdienste zur Verfügung stellen müssen. So legt Art. 29e VLK fest, dass das Bundesamt für Zivilluftfahrt als Anbieter der in Art. 5 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 genannten Informationen (Art. 29e Abs. 1 VLK) und Skyguide als Anbieter der in Art. 5 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 (Art. 29e Abs. 2 VLK) genannten Informationen zu verstehen sind (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2024, 5). Durch diese Ausführungen ermöglichen die genannten Bestimmungen des VLK, dass die in den Rechtsakten der EU enthaltenen Rechte und Pflichten in der Schweiz effektiv Anwendung finden.

[21]

Für die oben ausgeführte zweite Kategorie von Bestimmungen kann beispielsweise Art. 37 Abs. 1 VLK genannt werden. Um diese Bestimmung zu verstehen, muss zunächst auf Art. 69 der Verordnung (EU) 2018/1139 hingewiesen werden, der den zuständigen nationalen Behörden das Recht einräumt, bestimmte Aufgaben an «qualifizierte Stellen» zu übertragen. Der Gesetzgeber hat sich entschlossen, von diesem Recht Gebrauch zu machen, indem er dem Bundesamt für Zivilluftfahrt gestattet, die in Art. 37 Abs. 1 VLK konkret beschriebenen Aufgaben an qualifizierte Stellen zu delegieren. In diesem Zusammenhang kann auch auf Art. 26 Abs. 1 VLK verwiesen werden. Diese Bestimmung legt das Mindestalter für das ferngesteuerte Fliegen von unbemannten Luftfahrzeugen fest. Für die sogenannte «offene» Kategorie (Art. 4 der Durchführungsverordnung (EU) 2019/947) wird das Alter auf 12 Jahre und für die Kategorie «speziell» (Art. 5 der Durchführungsverordnung (EU) 2019/947) auf 14 Jahre bestimmt. Art. 9 Abs. 1 der Durchführungsverordnung 2019/947 sieht zwar ein Mindestalter von 16 Jahren für das Fernsteuern in den beiden Kategorien vor, aber Art. 9 Abs. 3 dieser Durchführungsverordnung lässt den Staaten die Möglichkeit, diese Altersgrenze um vier Jahre für die offene Kategorie und um zwei Jahre für die spezielle Kategorie zu senken. Von diesem Recht hat der schweizerische Gesetzgeber Gebrauch gemacht mit der Regelung in Art. 26 VLK. Die in diesem Absatz genannten Bestimmungen des VLK zeigen damit, wie der Gesetzgeber den im EU-Recht vorgesehenen Handlungsspielraum für eine abweichende Regelung im innerstaatlichen Recht nutzen kann.

[22]

Abschliessend sei noch Art. 29a VLK erwähnt. Diese Bestimmung sieht vor, dass U-Space-Lufträume im Sinne der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 vom Bundesamt für Zivilluftfahrt durch ein Verfahren zur Änderung der Luftraumstruktur bezeichnet werden können. Gemäss dem Inhalt des erläuternden Berichts zu dieser Bestimmung war es angesichts des unmittelbar anwendbaren Charakters der jeweiligen Bestimmungen der Durchführungsverordnung (EU) 2021/664 nicht erforderlich, den Begriff des U-Space-Luftraums oder die Regelung seiner Betriebsbedingungen ausdrücklich im innerstaatlichen Recht vorzusehen (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2024, 4). Dennoch hat der Gesetzgeber beschlossen, mit Art. 29a VLK «dans un but de compréhension globale et considérant l’impact des espaces aériens U-space sur l’aviation civile» die entsprechenden Bestimmungen des EU-Rechts im innerstaatlichen Recht abzubilden (Bundesamt für Zivilluftfahrt 2024, 4). Es handelt sich daher nicht um eine Umsetzung des EU-Rechts im engeren Sinne, da Art. 29a VLK a priori für die Anwendung der entsprechenden Bestimmungen nicht notwendig war. Das Ziel der Einführung dieser Bestimmung bestand aber darin, den von dieser Bestimmung betroffenen Personen und Behörden in der Schweiz ein besseres Verständnis für die Funktionsweise des U-Space-Luftraumregelsystems zu ermöglichen.

3. Schengen/Dublin

3.1. Besonderheiten der Assoziierung an Schengen/Dublin

[23]

Mit den inhaltlich ähnlich ausgestalteten Assoziierungsabkommen zu den Rechtsräumen «Schengen» (SR 0.362.31, nachfolgend SAA) und «Dublin» (SR 0.142.392.68, nachfolgend DAA) beteiligt sich die Schweiz an der Zusammenarbeit mit der EU in den Bereichen Grenze, Justiz, Polizei, Visa und Asyl. Diese Bereiche sind ständig neuen Herausforderungen ausgesetzt, weshalb sich auch die rechtlichen Bestimmungen dazu rasch weiterentwickeln. Entsprechend sind die beiden Assoziierungsabkommen so ausgestaltet, dass sie eine zeitnahe Anpassung der Zusammenarbeit an die sich ändernden Bedürfnisse ermöglichen. So sehen Art. 7 Abs. 1 SAA und Art. 4 Abs. 1 DAA vor, dass grundsätzlich neue Rechtsakte zu den beiden Acquis in der EU und in der Schweiz gleichzeitig in Kraft treten sollen (sog. Prinzip der Gleichzeitigkeit) (Epiney/Meier/Egbuna-Joss 2007, 20 ff.). Dafür sieht das Abkommen einerseits eine grundsätzliche Verpflichtung der Schweiz vor, neue Rechtsakte in diesen Bereichen, sog. Weiterentwicklungen des Schengen- bzw. Dublin-Besitzstandes dynamisch zu übernehmen. Für die Übernahme ist sodann ein spezielles, aber verhältnismässig einfaches und rasches Verfahren mit Notifikation durch die EU und Antwortnote der Schweiz vorgesehen. Auf diese Weise wird eine ganzheitliche und nahtlose Teilnahme an den Besitzständen gewährleistet und ein einheitlicher Rechtsraum geschaffen (Oesch 2017, 642 ff.). Im Gegenzug zur grundsätzlichen Übernahmeverpflichtung sehen die Abkommen Beteiligungs- und Mitspracherechte für die Schweiz vor, insbesondere im Bereich Schengen hat die Schweiz ein aktives Mitwirkungsrecht (sog. decision shaping rights). Dadurch kann die Schweiz bereits in der Phase der Erarbeitung eines im Rahmen von Schengen zu übernehmenden Rechtsaktes ihre Interessen und Positionen anbringen und damit aktiv auf den Inhalt des Rechtsaktes Einfluss nehmen (Bundesamt für Justiz 2009, 3 ff.).

[24]

Mit den vorstehend genannten Merkmalen unterscheiden sich die Abkommen zu Schengen/Dublin vom Inhalt der übrigen bilateralen Abkommen mit der EU. Im Folgenden werden diese Besonderheiten näher erläutert und ihr Einfluss auf die Rechtsübernahme und die Umsetzung ins innerstaatliche Recht dargestellt.

3.2. Teilnahme an der Erarbeitung des Rechtsakts

[25]

Damit Weiterentwicklungen in den Bereichen Schengen/Dublin effizient und rasch übernommen werden können, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Schweiz bereits in der Phase der Erarbeitung4 der entsprechenden Rechtsakte auf EU-Ebene einbezogen wird.

[26]

Wie einleitend ausgeführt, sehen die Assoziierungsabkommen für die Schweiz weitreichende Beteiligungs- und Mitspracherechte bei der Erarbeitung von Weiterentwicklungen vor.5 So kann die Schweiz im Bereich Schengen bereits in der Phase der Beratung und Erarbeitung eines Rechtsaktes in den entsprechenden Gremien (Ausschüsse und Arbeitsgruppen der Kommission und des Rates) im Format des Gemischten Ausschusses mitwirken.6 Dadurch kann die Schweiz zu Beginn der legislativen Arbeiten auf der EU-Ebene und damit in einem relativ frühen Zeitpunkt ihre Interessen vorbringen und hat die Möglichkeit, direkt auf den Inhalt des Rechtsakts Einfluss zu nehmen. Sie kann damit die Wahrscheinlichkeit, dass die verabschiedeten Bestimmungen auch die spezifischen Gegebenheiten der Schweiz berücksichtigen, erhöhen und dadurch für die Schweiz praktikable und umsetzbare Bestimmungen erwirken. Auch wenn die Schweiz an der formellen Beschlussfassung kein Stimmrecht hat und für die EU keine irgendwie geartete materielle Berücksichtigungspflicht für die Anliegen der Schweiz bestehen (Epiney/Meier/Egbuna-Joss 2007, 34 ff.), hat die Schweiz seit ihrer Assoziierung in 2004 ihre Beteiligungs- und Mitspracherechte stets aktiv und oft erfolgreich genutzt.7 Die Teilnahme der Schweiz an den legislativen Arbeiten der EU kann sich zudem auf das Gefühl der Teilhabe am Rechtsakt und damit auf dessen spätere Akzeptanz bei der Übernahme (auch für das Stimmvolk bei der Abstimmung infolge eines Referendums) positiv auswirken (kritisch hierzu, Oesch 2017, 639).

3.3. Besonderes Übernahmeverfahren

[27]

Das Übernahmeverfahren für die Weiterentwicklungen beginnt formell mit der Verabschiedung des entsprechenden Rechtsakts auf EU-Ebene. Die Assoziierungsabkommen sehen hierfür ein besonderes Verfahren in Art. 7 SAA bzw. Art. 4 DAA vor. Das Verfahren zeichnet sich dabei durch einfache und zügige Abwicklung aus. So ist zum einen vorgesehen, dass die EU umgehend nach Erlass der Weiterentwicklung der Schweiz den Rechtsakt notifiziert, d.h. mittels diplomatischer Note die Schweiz in Kenntnis setzt, dass eine Schengen- oder Dublin-Weiterentwicklung auf EU-Ebene erlassen wurde. Diese formelle Kenntnisnahme ist deshalb wichtig, weil der Schweiz nach den Assoziierungsabkommen die Pflicht zukommt, Weiterentwicklungen des Schengen- und Dublin-Besitzstand zu übernehmen (Art. 2 Abs. 3 SAA sowie Art. 1 Abs. 3 DAA, worauf nachfolgend näher eingegangen wird, siehe Ziff. 3.5.). Der Schweiz kommt für die Übernahme nur eine kurze Frist zu. Gemäss Art. 7 Abs. 1 SAA bzw. Art. 4 Abs. 1 DAA hat die Schweiz der EU innerhalb von 30 Tagen nach Erlass des Rechtsaktes mitzuteilen, ob sie den Rechtsakt übernimmt. Eine Übernahme auf diese Weise erfolgt nur, wenn der Bundesrat für die Übernahme allein zuständig ist, was bei den meisten Weiterentwicklungen der Fall ist.8 In diesen Fällen sehen die Assoziierungsabkommen keine besondere Frist für die Umsetzung ins innerstaatliche Recht vor. In der Praxis steht der Schweiz daher im Prinzip die im EU-Rechtsakt selbst vorgesehene Frist für eine Umsetzung durch die EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung. Damit wird dem Prinzip der Gleichzeitigkeit Rechnung getragen, wonach die Rechtsakte in der Schweiz und in der EU grundsätzlich zur gleichen Zeit in Kraft treten sollen (Art. 7 Abs. 1 SAA und Art. 4 Abs. 1 DAA, siehe hierzu oben Ziff. 3.1). Falls der Rechtsakt aber bereits auf EU-Ebene in Anwendung ist oder noch vor der Umsetzung in der Schweiz zur Anwendung kommen wird, hat die Schweiz die Pflicht, nach Treu und Glauben die Umsetzung so schnell wie möglich vorzunehmen (Bundesamt für Justiz 2009, 5).

[28]

Ist jedoch nicht der Bundesrat für die Übernahme eines Rechtsakts zuständig, sondern ein Beschluss des Parlaments (und im Falle eines Referendums die Zustimmung des Volkes) erforderlich, so verfügt die Schweiz über eine Frist von höchstens zwei Jahren ab der Notifikation, um den betreffenden Rechtsakt zu übernehmen und umzusetzen. Die Zustimmung des Parlaments ist insbesondere bei einer Umsetzung auf gesetzlicher Ebene erforderlich. In einem solchen Fall wird innerhalb der 30 Tage der Rechtsakt nicht übernommen, sondern die Antwort des Bundesrats übermittelt, dass die Schweiz den Rechtsakt übernimmt unter Vorbehalt der Erfüllung der «verfassungsrechtlichen Voraussetzungen» (Bundesamt für Justiz 2009, 7). Sobald diese verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Schweiz verpflichtet, dies der EU unverzüglich mitzuteilen (Art. 7 Abs. 2 lit. b SAA sowie Art. 4 Abs. 3 DAA).

[29]

Die Notifizierung durch die EU sowie die Antwortnote der Schweiz werden durch die Schweiz als ein Notenaustausch und damit als völkerrechtlicher Vertrag qualifiziert. Ob die Bestimmungen des betreffenden EU-Rechtsakts einer Umsetzung ins innerstaatliche Recht bedürfen, entscheidet sich wie bei allen völkerrechtlichen Verträgen im Lichte des monistischen Systems der Schweiz danach, ob es sich bei diesen Bestimmungen um self-executing (direkt anwendbare) Normen handelt oder nicht. Eine Umsetzung ist nur dann erforderlich, wenn eine Bestimmung des Rechtsakts nicht direkt anwendbar ist und das schweizerische Recht nicht bereits mit dem EU-Recht konform ist. Darüber hinaus besteht Anpassungsbedarf im innerstaatlichen Recht, wenn ein direkt anwendbarer Rechtsakt (der selbst keiner Umsetzung bedarf) im Widerspruch zu einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift steht. In diesem Fall ist die widersprechende Rechtsvorschrift zu ändern oder aufzuheben (Bundesamt für Justiz 2009, 5). Die Fragen, die sich dem Gesetzgeber in diesem Bereich stellen, sind somit die gleichen wie beim Luftverkehrsabkommen. Es kann daher auf die dortigen Ausführungen zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit verwiesen werden (siehe Ziff. 2.2).

3.4. Konsequenz der Übernahmepflicht für die Rechtsetzung

[30]

Die Assoziierungsabkommen schreiben der Schweiz vor, dass sie die Weiterentwicklungen im Schengen- und Dublin-Besitzstand zu übernehmen hat. Die Schweiz hat damit nicht eine Pflicht, Rechtsakte automatisch zu übernehmen, da sie der EU die Übernahme explizit mittels Antwortnote bekannt geben muss (Oesch 2017, 639). Sie verfügt dadurch im Grunde über die Freiheit, auch eine Weiterentwicklung abzulehnen. Kommt die Schweiz jedoch der Übernahme eines Rechtsakts nicht fristgerecht nach oder lehnt sie eine solche ganz ab, müssen die EU und die Schweiz nach dem in den Assoziierungsabkommen vorgeschriebenen Verfahren im Gemischten bzw. Gemeinsamen Ausschuss innert 90 Tagen nach einer angemessenen Lösung für die Weiterführung der Zusammenarbeit suchen (Art. 7 Abs. 4 und 5 SAA sowie Art. 4 Abs. 6 und 7 DAA). Sollten sie sich innerhalb dieser Frist nicht einigen können, kann dies aufgrund der Verknüpfung der beiden Abkommen zur Beendigung der gesamten Schengen-/Dublin-Zusammenarbeit führen (Art. 15 Abs. 4 SAA sowie Art. 14 Abs. 2 DAA). Angesichts der gravierenden Folgen bei einer Nichtübernahme, wird im Zusammenhang mit der Übernahme von Schengen/Dublin-Weiterentwicklungen von einer grundsätzlichen Übernahmepflicht für die Schweiz gesprochen. Eine Übernahmepflicht aller Weiterentwicklungen dient zwar, wie bereits erwähnt, einer engen und lückenlosen Zusammenarbeit im Bereich Schengen/Dublin. Doch eine solche Verpflichtung hat auch Konsequenzen für den Gesetzgeber. Um der grundsätzlichen Übernahmepflicht nachkommen zu können, sollte der zu übernehmende Rechtsakt so ausgestaltet sein, dass seine Übernahme und Umsetzung für den schweizerischen Gesetzgeber ohne weitere rechtliche Hindernisse möglich ist. Hierfür ist die zuvor genannte Beteiligung und Mitwirkung der Schweiz bei der Erarbeitung des Rechtsaktes wesentlich (siehe Ziff. 3.2). Dadurch können eventuelle Konflikte mit dem Schweizer Recht bereits auf EU-Ebene angegangen und soweit wie möglich behoben werden, um eine reibungslose Übernahme und Umsetzung durch den Gesetzgeber später zu gewährleisten.

3.5. Konsequenzen der kurzen Frist für die Rechtsetzung

[31]

Sowohl die Frist von 30 Tagen für die Antwort der Schweiz und damit für die Beschlussfassung des Bundesrates als auch die Frist von zwei Jahren für die Umsetzung auf Gesetzesstufe sind angesichts der in dieser Zeit vom Gesetzgeber zu leistenden Arbeiten äusserst knapp bemessen. Insbesondere bei der Zweijahresfrist kann ein Referendum und ein nicht planmässig verlaufender Umsetzungsprozess die Schweiz rasch in eine Situation bringen, in der die Einhaltung der Zweijahresfrist schwierig wird. Der Gesetzgeber hat sich daher bereits vor der Verabschiedung der entsprechenden Rechtsakte auf nationaler Ebene mit den für die Übernahme und Umsetzung erforderlichen Schritten zu befassen, um eine fristgerechte Beschlussfassung und Umsetzung zu gewährleisten. Um in der Erarbeitungsphase effektiv und bedeutend die Interessen der Schweiz vorzubringen, muss die Analyse eines Rechtsakts zeitnah zu seinem Vorschlag erfolgen. Dies setzt voraus, dass sich der schweizerische Gesetzgeber kontinuierlich über die Schengen- und Dublin-relevanten Rechtsetzungsvorhaben der EU informiert und einen Überblick darüber behält, in welchem Stadium sich die Rechtsakte in der EU befinden und wann mit der Verabschiedung und Notifizierung eines Rechtsaktes zu rechnen ist. Die kurze Frist für die Übernahme erfordert daher vom Gesetzgeber ein hohes Mass an Planung und Antizipation (Bundesamt für Justiz 2009, 11).

4. Schlussfolgerung

[32]

Wenn von den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU die Rede ist, wird in der Regel auf die grosse Zahl bilateraler Abkommen und die Vielfalt der von diesen Abkommen abgedeckten Bereiche verwiesen. Diese beiden Feststellungen sind natürlich korrekt, neigen aber dazu, einen dritten, ebenso wichtigen Parameter zu übersehen: die Diversität, die den Inhalt der bilateralen Abkommen kennzeichnet, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Mechanismen, die die Übernahme des EU-Rechts vorsehen. Für den schweizerischen Gesetzgeber ist dieser Punkt von grundlegender Bedeutung, da der Inhalt des jeweiligen Abkommens betreffend die Übernahme des EU-Rechts sich wesentlich auf seine Tätigkeit auswirkt.

[33]

Das Luftverkehrsabkommen hat insofern Auswirkungen auf die Tätigkeit des Gesetzgebers, als es die Schweiz zur Anwendung von EU-Rechtsakten verpflichtet, sobald diese in den Anhang des Abkommens aufgenommen werden. Der Gesetzgeber muss daher noch bevor ein EU-Rechtsakt in den Anhang aufgenommen wird entscheiden, ob dieser Rechtsakt im nationalen Recht direkt anwendbar ist oder ob sein Inhalt eine Umsetzung ins innerstaatliche Recht erfordert. Im letzteren Fall wird seine Aufgabe zwangsläufig aufwendiger, da er für die Umsetzung zum einen die betroffenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften identifizieren muss, die eine Änderung oder eine neue Vorschrift erfahren müssen. Zum anderen muss er entscheiden, inwieweit ein Rechtsakt, in welchem die Rechtsvorschriften enthalten sind, geändert werden muss. Des Weiteren muss der Gesetzgeber auch prüfen, ob und inwieweit er gestützt auf einen im EU-Rechtsakt vorgesehenen Handlungsspielraum für weitergehende nationale Regelungen, spezifische innerstaatliche Bestimmungen vorsehen möchte. Je nach EU-Rechtsakt kann dieser Handlungsspielraum unterschiedlich gross ein.

[34]

Die Assoziierungsabkommen zu Schengen/Dublin haben durch ihre inhaltliche Ausgestaltung in Bezug auf die Übernahme von EU-Recht ebenfalls besondere Auswirkungen auf die Tätigkeit des Gesetzgebers. Durch die grundsätzliche Übernahmepflicht der Schweiz und das einfache und zeitlich eng begrenzte Übernahmeverfahren, verlangen sie vom Gesetzgeber generell eine rasche und dynamische Übernahme aller Weiterentwicklungen der jeweiligen Acquis. Für eine effektive und reibungslose Übernahme der Weiterentwicklungen ist es dabei unerlässlich, dass die Schweiz sich bereits in der Phase der Ausarbeitung der Rechtsakte auf EU-Ebene beteiligt. Dank ihres Mitwirkungs- und Mitspracherechts kann sie den Inhalt der Rechtsakte aktiv mitgestalten. Dies kann die Tätigkeit des Gesetzgebers in Bezug auf die Übernahme der Weiterentwicklungen erleichtern, wenn dadurch inhaltlich ein Rechtsakt erarbeitet werden konnte, der die spezifischen Bedürfnisse und Gegebenheiten der Schweiz berücksichtigt und somit die Übernahme und Umsetzung für den Gesetzgeber praktikabler gestaltet. Gleichzeitig können die Mitwirkungs- und Mitspracherechte der Schweiz auch als politisches Argument dafür beigezogen werden, um allfällige Bedenken der Autonomieunterwanderung aufgrund der grundsätzlichen Übernahmepflicht der Schweiz auszuräumen. In Bezug auf die Umsetzung von EU-Bestimmungen, ob diese direkt anwendbar sind oder nicht, stellen sich dem Gesetzgeber die gleichen Fragen wie beim Luftverkehrsabkommen. Ähnlich wie beim Luftverkehr müssen diese Fragen zu einem sehr frühen Stadium geklärt werden. Schliesslich verlangen die sehr kurzen Fristen für die Übernahme vom Gesetzgeber, dass er seine Arbeiten für die Übernahme und insbesondere für die Umsetzung des Rechts auf nationaler Ebene frühzeitig in Angriff nimmt.

[35]

Obwohl die Übernahmemechanismen für das Luftverkehrsabkommen und die Schengen/Dublin-Abkommen unterschiedlich sind, steht der Gesetzgeber bei seiner Arbeit in vielen Bereichen vor ähnlichen Herausforderungen. Insbesondere die Faktoren Zeitdruck und Umfang bestehen für den Gesetzgeber bei beiden Arten von Abkommen in ähnlicher Weise. Die unterschiedlichen Regelungen zur Übernahme von EU-Recht zeigen, dass verschiedene Verfahren eine erfolgreiche Übernahme von EU-Recht in ähnlicher Intensität und Quantität gewährleisten können. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass in beiden Übernahmeverfahren sich für den Gesetzgeber ähnliche Fragen stellen, sobald die Umsetzung betroffen ist. Zudem erfordern beide Verfahren, dass der Gesetzgeber frühzeitig aktiv wird und Vorabklärungen trifft, um eine korrekte und fristgerechte Übernahme und Umsetzung des EU-Rechts zu gewährleisten.


Marco Urban, Dr. iur. Rechtsanwalt, Jurist beim Bundesamt für Justiz, Fachbereich Europarecht und Koordination Schengen/Dublin, marco.urban@bj.admin.ch.

Vijitha Fernandes-Veerakatty, Dr. iur. Rechtsanwältin, Juristin beim Bundesamt für Justiz, Fachbereich Europarecht und Koordination Schengen/Dublin, vijitha.fernandes@bj.admin.ch.

In diesem Beitrag bringen wir unsere persönliche Meinung zum Ausdruck, nicht die Position des Bundesamts für Justiz.


Literaturverzeichnis

  • Arbia, Ali (2008): The Road not Taken. Europeanisation of Laws in Austria and Switzerland (1996–2005): Studies and Working Papers, Graduate Institute of International and Development Studies, Genf.
  • Bundesamt für Justiz (2009): Leitfaden zum Verfahren der Erarbeitung, Übernahme und Umsetzung von Weiterentwicklungen des Schengen/Dublin-Besitzstands, Leitlinien für die Projektverantwortlichen in den Fachämtern, Bern (Bundesamt internes Dokument).
  • Bundesamt für Zivilluftfahrt (2013): Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA), November 2013, abrufbar unter: https://www.bazl.admin.ch/bazl/fr/home/themen/bases-legales/affaires-internationales/agence-europeenne-de-la-securite-aerienne--aesa-.html [3. April 2025].
  • Bundesamt für Zivilluftfahrt (2024): Révision partielle de l’Ordonnance du DETEC sur les aéronefs de catégories spéciales (OACS), abrufbar unter: https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/88143.pdf [3. April 2025].
  • Bundeskanzlei (2024): Gesetzestechnische Richtlinien des Bundes (GTR), Stand 29. November 2024, abrufbar unter: https://www.bk.admin.ch/apps/gtr/de/index.html?_toc348089268.html [3. April 2025].
  • Bundesrat (1999): Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999 6128.
  • Dettling-Ott, Regula (2007): Das bilaterale Luftverkehrsabkommen der Schweiz und der EG in: Thürer, Daniel / Weber, Rolf H. / Portmann, Wolfgang / Kellerhals, Andreas (Hrsg.), Bilaterale Verträge I & II Schweiz-EU, Handbuch, Genf/Zürich/Basel, 491.
  • Dettling-Ott, Regula (2012): 10 Jahre Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und der Schweiz – eine Bilanz, ASDA-Bulletin 144/2012, 6.
  • Haldimann, Urs (2001): Grundzüge des Abkommens über den Luftverkehr, in: Felder, Daniel / Kaddous, Christine (Hrsg.), Bilaterale Abkommen Schweiz-EU, Basel, 443.
  • Epiney, Astrid / Meier, Annekathrin / Egbuna-Joss, Andrea (2007): Schengen/Dublin, in: Thürer, Daniel / Weber, Rolf H. / Portmann, Wolfgang / Kellerhals, Andreas (Hrsg.), Bilaterale Verträge I & II, Schweiz-EU, 903.
  • Jenni, Sabine (2013): Direkte und indirekte Europäisierung der schweizerischen Bundesgesetzgebung, in: LeGes 24 (2013) 2, 489.
  • Kohler, Emilie (2009): Influences du droit européen sur la législation suisse: analyse des années 2004 à 2007, in: Jusletter 31. August.
  • Oesch, Matthias (2017): Die bilateralen Abkommen Schweiz – EU und die Übernahme von EU-Recht, AJP/PJA, 5/2017, 638.


  1. 1 Studien zufolge werden rund 30 bis 50 % der Bundesgesetze durch das entsprechende EU-Recht beeinflusst (Jenni 2013, 489–504; Kohler 2009, 1–12; Arbia 2008, 65–84).
  2. 2 Zum Luftverkehrsabkommen im Allgemeinen siehe insbesondere Dettling-Ott 2007, 491–561; Haldimann 2001, 443–461.
  3. 3 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine staatsvertragliche Bestimmung praxisgemäss direkt anwendbar, wenn sie inhaltlich hinreichend bestimmt und klar ist, um im Einzelfall Grundlage eines Entscheides bilden zu können. Die Norm muss mithin justiziabel sein, d.h. es müssen die Rechte und Pflichten des Einzelnen umschrieben und der Adressat der Norm die rechtsanwendenden Behörden sein (BGE 140 II 185 E. 4.2).
  4. 4 Die Erarbeitungsphase eines Rechtsaktes beginnt – je nach Verfahren und Rechtsgrundlage – mit dem Vorschlag der Kommission oder einer Initiative eines Mitgliedstaats und endet mit der formellen Beschlussfassung (Erlass) des jeweiligen Rechtsaktes durch das zuständige EU-Organ, sei es die Kommission, der Rat oder der Rat und das Parlament (Bundesamt für Justiz 2009, 3).
  5. 5 Für Dublin siehe Beteiligung der Schweiz im Gemeinsamen Ausschuss nach Art. 2 und 3 DAA. Gemäss Art. 3 DAA findet im Gemischten Ausschuss ein Meinungsaustausch über die Ausarbeitung und Änderung neuer Rechtsakte von Dublin statt.
  6. 6 Für Schengen siehe Beteiligung der Schweiz im Gemischten Ausschuss nach Art. 3 ff. SAA.
  7. 7 Es bestehen keine öffentlichen Auflistungen und Aufzeichnungen über die von der Schweiz erfolgreich erwirkten Berücksichtigungen von Schweizer Positionen. Es ist jedoch verschiedentlich festgehalten, dass die Schweiz sich erfolgreich in den Beratungen einbringen konnte. So zum Beispiel, dass sie sich im Rahmen der Beratungen der geänderten EU-Waffenrichtlinie erfolgreich für pragmatische Lösungen einsetzen konnte in der Stellungnahme des Bundesrates zur Interpellation 17.3200 vom 16.06.2017, EU-Waffenrichtlinie im Spannungsfeld zwischen Schweizer Tradition und Schengen-Acquis.
  8. 8 Ca. 60–70% der Weiterentwicklungen stellen Verträge beschränkter Tragweite im Sinne von Art. 7a RVOG dar (Oesch 2017, N. 644). Siehe auch Weiterentwicklungsliste des Bundesamts für Justiz, abrufbar unter https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/sicherheit/schengen-dublin/uebersichten.html (zuletzt besucht am 2. April 2025).
PDF