Werkstattberichte DOI: 10.38023/8c050d5d-0975-41a1-8945-5c73e91b5c5d

Die Bezeichnung von technischen Normen

Rebekka Holenstein Pfenninger
Rebekka Holenstein Pfenninger

Zitiervorschlag: Rebekka Holenstein Pfenninger, Die Bezeichnung von technischen Normen, LeGes 32 (2021) 3

Im Produkterecht werden die Titel von harmonisierten, technischen Normen im Bundesblatt veröffentlicht. Wird ein Produkt nach solchen bezeichneten Normen hergestellt, so wird vermutet, dass es den grundlegenden rechtlichen Anforderungen entspricht (Konformitätsvermutung). Das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO hat zusammen mit anderen Bundesämtern eine Mustervorlage erarbeitet, um die Publikation dieser Referenzen zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Anhand dieser Mustervorlage soll erörtert werden, wie die Bezeichnung rechtlich einzuordnen ist. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, ob es sich beim Akt der Bezeichnung um Rechtsetzung handelt.


Inhaltsverzeichnis

1. Hintergrund

[1]

Bei technischen Normen (nachstehend nur noch Normen) handelt es sich gemäss Artikel 3 Buchstabe c des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 über die technischen Handelshemmnisse (THG; SR 946.51) um «nicht rechtsverbindliche, durch normenschaffende Organisationen aufgestellte Regeln, Leitlinien oder Merkmale, welche insbesondere die Herstellung, die Beschaffenheit, die Eigenschaften, die Verpackung oder die Beschriftung von Produkten […] betreffen». Im Gegensatz zu technischen Vorschriften gemäss Artikel 3 Buchstabe b THG sind Normen von Privaten erarbeitet und in der Regel nicht rechtsverbindlich. Von diesem Grundsatz gibt es Ausnahmen, z.B. in Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe c i.V.m. Ziffer 211 Anhang 4 der Luftreinhalte-Verordnung vom 16. Dezember 1985 (LRV; SR 814.318.142.1) und im Bauprodukterecht (Art. 4 Abs. 2 Bst. a Bundesgesetz vom 21. März 2014 über Bauprodukte (BauPG; SR 933.0)). Eine grundsätzlich freiwillig anwendbare Norm, entfaltet – sofern sie bezeichnet wurde – trotzdem eine Rechtswirkung. Wird ein Produkt nach bezeichneten Normen hergestellt, so gilt Kraft Gesetz die Vermutung, dass das Produkt den grundlegenden rechtlichen Anforderungen entspricht. Es gilt die sog. Konformitätsvermutung (Art. 4 Abs. 5 Bst. c THG).

[2]

Dieses Zusammenspiel von Recht und Normen ist auch unter dem Begriff «neue Konzeption» (Botschaft THG, S. 534 f.) bzw. «neues Konzept» (Blue Guide Ziff. 1.1.3.) bekannt (im Englischen: «new approach»). Demnach legt der Gesetzgeber nur noch die grundlegenden Anforderungen an ein Produkt fest (Art. 4 Abs. 5 Bst. a THG). Die Konkretisierung dieser Anforderungen erfolgt durch Normen (Art. 4 Abs. 5 Bst. b THG), die von Normenorganisationen und Herstellern erarbeitet werden (vgl. zum Ganzen Botschaft THG, S. 534 f.). Das Heranziehen privater Normen entlastet die Gesetzgebung und gibt den Produkteherstellern gleichzeitig eine gewisse Freiheit. Denn die Anwendung von bezeichneten Normen ist grundsätzlich freiwillig. Der Hersteller hat die Möglichkeit, andere technische Spezifikationen anzuwenden oder nach dem allgemeinen Stand der Technik oder Wissenschaft zu produzieren. Wählt der Hersteller diesen Weg, entfällt die Konformitätsvermutung. Diese Flexibilität erlaubt es den Herstellern aber, Werkstoffwahl und Produktgestaltung dem technischen Fortschritt anzupassen (Blue Guide Ziff. 4.1.1.).

[3]

Das neue Konzept hat die Europäische Union (EU) zwecks Regulierung des freien Warenverkehrs entwickelt (vgl. zum Ganzen Blue Guide Ziff. 1.). Die Schweiz hat es im Bereich der Produktegesetzgebung übernommen (Botschaft THG, S. 534 ff.). Ändert die EU ihre Produkteregulierungen, werden die Änderungen auch von der Schweiz regelmässig berücksichtigt. Aufgrund dieser starken Harmonisierung des Landesrechts mit jenem der EU wird im vorliegenden Artikel auch Bezug genommen auf die EU.

2. Der Bezeichnungsvorgang

[4]

Die Bezeichnung von Normen erfolgt in der Schweiz durch die Veröffentlichung des Norm-Titels mit Fundstelle oder Bezugsquelle im Bundesblatt (Art. 4 Abs. 5 Bst. b THG). Der Bezeichnungsvorgang von Normen ist nicht nur im THG geregelt. Er ist auch in weiteren Schweizer Sektorgesetzen und -verordnungen verankert, z. B. in Artikel 6 Absatz 3 des Bundesgesetzes vom 12. Juni 2009 über die Produktesicherheit (PrSG; SR 930.11), in Artikel 15 Absatz 1 der Verordnung vom 27. August 2014 über Bauprodukte (BauPV; SR 933.01) und in Artikel 7 Absatz 2 der Messmittelverordnung vom 15. Februar 2006 (MessMV; SR 941.210). Eine sektorielle Regelung ist angezeigt, weil die Bezeichnung jeweils durch jene Bundesbehörde erfolgt, die für das von der Norm betroffene Produkt zuständig ist. Die Art und Weise der Bezeichnung fiel aufgrund der sektoriellen Zuständigkeiten in den verschiedenen Produktesektoren unterschiedlich aus. Um den Bezeichnungsvorgang zu vereinfachen und das Verständnis für diesen Vorgang zu fördern, erarbeitete das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im Jahr 2017 zusammen mit anderen Bundesämtern eine Modellvorlage für die Bezeichnung von Normen im Bundesblatt (vgl. nachstehend Ziff. 3).

[5]

In der EU erfolgt der Bezeichnungsvorgang mit der Veröffentlichung der Referenz auf die einschlägige Norm im Amtsblatt der Europäischen Union (Art. 10 Abs. 6 Verordnung (EU) Nr. 1025/2012). Bis Ende 2018 wurde diese Referenz als Mitteilung der Kommission im Amtsblatt der EU in der Reihe C veröffentlicht (vgl. zum Ganzen Blue Guide Ziff. 4.1.2.4.). Die Reihe C des Amtsblatts enthält Mitteilungen und Bekanntmachungen (https://publications.europa.eu/code/de/de-110100.htm, zuletzt besucht am 15. November 2021).

[6]

Aufgrund der dargelegten Publikationspraxis wurden bezeichnete Normen weder von der EU noch von der Schweiz als Bestandteil des formellen Rechts betrachtet. Diese Betrachtungsweise hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit dem Urteil C-613/14 vom 27. Oktober 2016 in Frage gestellt. In diesem Urteil führte der EuGH aus, bezeichnete Normen seien «Teil des Unionsrechts» (Rn. 40). Das Europäische Parlament hat sich gegen ein solches Verständnis von Normen ausgesprochen. Es betonte, «[…] dass Normen nicht als Teil des Unionsrechts aufgefasst werden können, da die Rechtsvorschriften und Maßnahmen, die sich auf das Niveau des Verbraucher-, Gesundheits-, Sicherheits-, Umwelt- und Datenschutzes […] beziehen, vom Gesetzgeber festgelegt werden» (Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 4. Juli 2017, ABl C 334 vom 19.9.2018, S. 4). Dennoch änderte die EU-Kommission aufgrund des Urteils C-613/14 ihre Bezeichnungspraxis. Seit dem 20. Dezember 2018 veröffentlicht sie die Referenzen auf Normen in Form eines Durchführungsbeschlusses (Durchführungsbeschluss (EU) 2018/2048) in der Reihe L des Amtsblatts, welche Rechtsvorschriften enthält (https://publications.europa.eu/code/de/de-110100.htm, zuletzt besucht am 15. November 2021).

[7]

Gemäss Artikel 3 Buchstabe c THG kommt Normen keine Rechtsverbindlichkeit zu; sie sind daher nicht Bestandteil des formellen Rechts. Das schweizerische Recht geht grundsätzlich von einem monistischen, etatistischen Rechtsbegriff aus (Schindler/Tschumi, Art. 5 BV N 25, m.w.H.). Differenzierter äussert sich Uhlmann. Nach diesem Autor versprühe der Staat aber dann einen «schwachen Hauch von Verbindlichkeit», wenn er private Normen als eine hinreichende Erfüllung verwaltungsrechtlicher Pflichten bezeichne (Uhlmann, S. 96).

[8]

Aufgrund der geänderten Bezeichnungspraxis in der EU stellte sich auch in der Bundesverwaltung die Frage, ob allenfalls der Akt der Bezeichnung selber rechtssetzender Natur ist und daher gemäss Artikel 2 des Bundesgesetzes vom 18. Juni 2004 über die Sammlungen des Bundesrechts und das Bundesblatt (PublG; SR 170.512) zu veröffentlichen ist. Denn laut Artikel 2 PublG müssen nicht nur Verfassung, Gesetze und Verordnungen, sondern auch rechtsetzende Erlasse der Bundesbehörden in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts veröffentlicht werden. Demgegenüber können Beschlüsse, Weisungen und Mitteilungen der Bundesverwaltung, die eine gewisse Aussenwirkung entfalten oder die von allgemeiner Bedeutung sind, im Bundesblatt veröffentlicht werden (Art. 13 Abs. 2 Bst. c PublG und Botschaft PublG, S. 7733).

[9]

Die dazumal angestellten und hier vertretenen Überlegungen werden vorliegend aufgezeigt. Um zu eruieren, ob der Bezeichnungsakt ein rechtssetzender Erlass ist, wurde einerseits geprüft, ob die Bezeichnung die Anforderungen an einen Rechtssatz erfüllt (nachstehende Ziff. 4). Andererseits wurde erwogen, ob der Bezeichnungsakt selber eine Rechtswirkung entfaltet (nachstehende Ziff. 5).

[10]

Der Inhalt der bezeichneten Norm wird mit der Bezeichnung nicht veröffentlicht. Auf die Problematik, dass mit der Bezeichnung auf ein privates Regelwerk verwiesen wird, das nur gegen Bezahlung erhältlich ist, wird vorliegend nicht eingegangen. An dieser Stelle sei lediglich der Hinweis angebracht, dass das Gericht der Europäischen Union kürzlich bestätigt hat, dass harmonisierte bezeichnete Normen grundsätzlich kostenpflichtig sind (Urteil T-185/19 vom 14. Juli 2021). Dieses Urteil wurde angefochten. Die Rechtssache ist derzeit beim Europäischen Gerichtshof hängig (C-588/21 P).

3. Die Modellvorlage für die Bezeichnung von technischen Normen

[11]

Nachstehend wird der Aufbau der Modellvorlage am Beispiel der Bezeichnung von Normen für Funkanlagen (BBl 2021 1824) aufgezeigt.

[12]

Der Titel der Modellvorlage nennt den Vorgang, der mit der vorliegenden Publikation erfüllt wird und verweist auf die sektorielle Verordnung oder das Spezialgesetz, die das Produkt regeln, für welches die zu bezeichnenden Normen erarbeitet wurden:

«Bezeichnung technischer Normen für Funkanlagen gestützt auf die Verordnung über Fernmeldeanlagen (FAV).»

[13]

Die Modellvorlage ist in fünf Abschnitte gegliedert:

3.1. Ausgangslage

[14]

Unter Ziffer 1.1. wird die produkterechtliche Bestimmung genannt, welche die Bezeichnung von Normen zwecks Konkretisierung der grundlegenden Anforderungen vorsieht. Es wird daran erinnert, dass die Konformitätsvermutung gilt, wenn die bezeichneten Normen angewendet werden:

«Das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) ist nach Artikel 31 Absatz 2 Buchstabe a des Fernmeldegesetzes vom 30. April 19971 (FMG) befugt, […] technische Normen zu bezeichnen, die geeignet sind, die grundlegenden Anforderungen an Funkanlagen zu konkretisieren. […] Werden die bezeichneten Normen angewendet, so wird vermutet, dass die grundlegenden Anforderungen erfüllt sind.»

[15]

Unter Ziffer 1.2. werden die Veröffentlichungen der EU-Kommission im Amtsblatt der EU genannt, mit der die EU-Kommission Normen bezeichnet hat. Auch dies erfolgt unter Nennung der produkterechtlichen Grundlage für die Bezeichnung:

«Die von der Europäischen Kommission im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2014/53/EU […] bezeichneten harmonisierten technischen Normen sind in ihrer Mitteilung 2018/C 326/04 […] aufgeführt. Die Kommission hat diese Mitteilung mit den Durchführungsbeschlüssen (EU) 2020/167 […], (EU) 2020/553 […], (EU) 2020/1562 […] und (EU) 2021/1196 […] aktualisiert.»

3.2. Bezeichnungsakt

[16]

Die Ziffer 2. stellt den eigentlichen «Bezeichnungsakt» dar. Das zuständige Amt erklärt, mit dem vorliegenden Akt eine oder mehrere Normen zu bezeichnen. Üblicherweise wird dabei auf die Normen verwiesen, die in den Veröffentlichungen der EU zu finden sind, welche in der vorstehenden Ziffer 1.2. genannt wurden. Sofern keine einschlägigen Normen durch die EU-Kommission bezeichnet worden sind, kann das zuständige Bundesamt auch andere Normen bezeichnen:

«Das BAKOM bezeichnet hiermit […]:

  1. die technischen Normen, die in den Veröffentlichungen der EU nach Ziffer 1.2. aufgeführt sind;
  2. die […] technischen Normen, die es selber erarbeitet hat: […]».

3.3. Frühere Bezeichnung

[17]

Die Ziffer 3. regelt die Gültigkeit früherer Bezeichnungen. Es wird festgehalten, dass die vorliegende Bezeichnung die vorhergehende ersetzt:

«Diese Bezeichnung ersetzt die Bezeichnung vom 17. November 2020.»

3.4. Einsichtsmöglichkeit und Bezugsquelle

[18]

Der Bezeichnungsakt nennt nur die Normreferenz mit deren Titel. Die Normen selber sind in dieser Veröffentlichung nicht einsehbar. Daher wird unter der Ziffer 4. ausgeführt, wo die Normen eingesehen und bezogen werden können:

«Die bezeichneten Normen können wie folgt eingesehen oder bezogen werden:

  1. kostenlose Einsicht und Bezug gegen Bezahlung bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), Sulzerallee 70, Postfach, 8404 Winterthur, www.snv.ch;
  2. Bezug gegen Bezahlung bei asut, Klösterlistutz 8, 3013 Bern, www.asut.ch

3.5. Entsprechungen

[19]

Muss ein Produkt mehrere grundlegende Anforderungen erfüllen, so kann das bezeichnende Amt unter der Ziffer 5. eine Entsprechungstabelle veröffentlichen. Das erleichtert den Adressatinnen und Adressaten die Nachvollziehbarkeit:

«Welche grundlegenden Anforderungen der FAV eine technische Norm zu konkretisieren geeignet ist, ergibt sich aus der Mitteilung 2018/C 326/04, den Durchführungsbeschlüssen (EU) 2020/167, (EU) 2020/553, (EU) 2020/1562 und (EU) 2021/1196 sowie der folgenden Entsprechungstabelle:

 

Grundlegende Anforderung FAV Grundlegende Anforderung Richtlinie 2014/53/EU
Art. 7 Abs. 1 Bst. b Art. 3.1.b
Art. 7 Abs. 2 Art. 3.2
Art. 7 Abs. 3 Bst. a Art. 3.3.a
Art. 7 Abs. 3 Bst. b Art. 3.3.b
Art. 7 Abs. 3 Bst. c Art. 3.3.c

[…]».

4. Der Rechtssatz

[20]

Nach Artikel 22 Absatz 4 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG; SR 171.10) gelten Bestimmungen als rechtsetzend, «die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen.» Kein Rechtssatz legt jedoch im Einzelnen die Anforderungen fest, die eine Rechtsnorm erfüllen muss. Lehre und Rechtsprechung gehen aber davon aus, dass denjenigen Normen Rechtsqualität zukommt, welche eine sog. Aussenwirkung entfalten, indem sie die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Individuum regeln (Schindler/Tschumi, Art. 5 N 19). Der Botschaft neue BV ist zu entnehmen, dass unter Recht alle Rechtsnormen zu verstehen, sind «unabhängig von ihrem Rang (Verfassungs-, Gesetzes-, Verordnungsrecht, nationales und internationales Recht)» (Botschaft neue BV, S. 132).

[21]

Der Bezeichnungsakt ist eine eigenständige Publikation. Die Bezeichnung ist in keine der soeben genannten Erlassformen gegossen. Aus Artikel 5 BV lassen sich aber allgemeine Anforderungen an einen Rechtssatz ableiten (vgl. dazu BGE 146 II 97 E. 2.2.4 und BGE 120 Ia 1 E. 4b). In einem ersten Schritt wurde geprüft, ob der Bezeichnungsakt diese allgemeinen Anforderungen erfüllt. Die Kriterien Normdichte, Normstufe und Veröffentlichungsprinzip waren dabei wenig ergiebig. Bei der Prüfung des Legalitätsprinzips hingegen ergaben sich bereits erste Hinweise. Diese werden nachstehend aufgezeigt.

[22]

Das Gesetzmässigkeitsprinzip (Legalitätsprinzip) bedeutet, dass sich Verwaltungshandeln auf ein Gesetz stützen muss (Art. 5 Abs. 1 BV). Dabei muss es sich bei der nötigen gesetzlichen Grundlage nicht zwingend um ein Gesetz im formellen Sinn handeln. Auch eine von der Exekutive erlassene Verordnung genügt diesem Anspruch. Entscheidend ist, dass staatliches Handeln auf der Grundlage von generell-abstrakten (Rechts-)Normen geschieht (Schindler/Tschumi, Art. 5 N 38). Generell-abstrakt ist eine Rechtsnorm, wenn sie für eine unbestimmte Zahl von Personen in einer unbestimmten Zahl von Fällen gilt. Grundsätzlich kann die Bezeichnung für eine Vielzahl von Normen genutzt werden. Ein Bezeichnungsakt ergeht aber naturgemäss nur für bestimmte Normen und niemals für alle Normen. Dabei sind bezeichnete Normen direkt anwendbar für eine mögliche Mehrheit von Betroffenen, ohne dass es eines weiteren umsetzenden Hoheitsaktes bedarf. Die Bezeichnung verknüpft somit für eine unbestimmte Zahl von Personen eine Rechtswirkung mit einer konkreten Situation. Damit ist die Bezeichnung generell-konkreter und nicht generell-abstrakter Natur (BGE 134 II 272 E. 3.2). Das war der erste Hinweis, der gegen die Qualifikation der Bezeichnung als Rechtsnorm sprach.

[23]

Dieser Eindruck bestätigte sich, als der Aspekt des staatlichen Handelns geprüft wurde. Dieses besteht in casu vor allem in einem Dulden. Die Behörden müssen sich die Konformitätsvermutung entgegenhalten lassen und dürfen nicht systematisch einen Konformitätsnachweis in Form einer technischen Dokumentation verlangen. Dieser Mechanismus ist einer der Grundgedanken der neuen Konzeption, bei der dem Hersteller die Verantwortung für die Konformität und somit auch die Sicherheit seines Produkts übertragen wird. Sind Produkte nicht sicher, kann dies Polizeigüter gefährden. Es wäre zumindest fragwürdig, wenn die Behörde ihr «Nichtstun» einzig auf die Bezeichnung und somit eine eigene Anordnung stützen würde. Das staatliche Dulden ist deshalb sowohl in Gesetzen als auch in Verordnungen verankert; horizontal in Artikel 4 Absatz 5 THG und im vorliegenden Beispiel in Artikel 31 Absatz 2 Buchstabe a des Fernmeldegesetzes vom 30. April 1997 (FMG; SR 784.10).

[24]

Die Überprüfung des Bezeichnungsakts auf die Anforderungen, die ein Rechtssatz erfüllen muss, deutete bereits darauf hin, dass die Bezeichnung kein rechtssetzender Akt ist. In einem zweiten Schritt wurde geprüft, ob sich bei der Rechtswirkung ein anderes Bild ergab.

5. Rechtswirkung

[25]

Die Rechtsfolge, die vorliegend bezweckt wird, ist die Schaffung einer Rechtsvermutung: Es wird vermutet, dass die grundlegenden Anforderungen, die in Gesetz und Verordnung verankert sind, eingehalten sind, wenn nach bezeichneten Normen hergestellt wird. Mit dieser Rechtsvermutung wird die Rechtsstellung der Rechtsunterworfenen gestaltet: Wer nicht von ihr profitiert, unterliegt der Pflicht, die Einhaltung der grundlegenden Anforderungen anderweitig nachzuweisen. Wer von ihr profitiert, hat das Recht, diese Vermutungswirkung den Behörden gegenzuhalten.

[26]

Die (Nachweis-)Pflicht wird nicht durch die Bezeichnung auferlegt, sondern durch die Gesetze und Verordnungen, welche die grundlegenden Anforderungen bestimmen. Seitens Rechtsunterworfene begründet die Bezeichnung mithin keine Pflichten. Auch das Recht, sich auf die Vermutungswirkung verlassen zu dürfen, wird nicht erst durch die Bezeichnung verliehen. Dieses Recht wird horizontal durch Artikel 4 Absatz 5 Buchstabe c und d THG und sektoriell durch die verschiedenen Sektorgesetzgebungen und -verordnungen verliehen. Dieses Recht ist dabei suspensiv bedingt. Die Rechtsunterworfenen können dieses Recht erst geltend machen ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung von Normen im Bundesblatt. Solange keine Normen vorhanden sind oder nicht bezeichnet sind, kann dieses Recht nicht eingefordert werden.

[27]

Dieser Auffassung war auch die EU-Kommission. Im – immer noch massgebenden – Blue Guide von 2016 führt sie aus, dass die Veröffentlichung der Referenz auf die Norm im Amtsblatt zum Ziel hat, das Datum festzusetzen, ab dem die Konformitätsvermutung wirksam wird. Sie betont dabei, «[…] die Veröffentlichung der Referenz harmonisierter Normen stellt einen Verwaltungsakt dar, der ohne weitere Konsultation der Mitgliedstaaten oder der einschlägigen sektoralen Ausschüsse durchgeführt wird» (Blue Guide Ziff. 4.1.2.4.).

[28]

Nicht unerheblich ist auch, dass es sich bei diesem Recht lediglich um eine Vermutung handelt. Die Anwendung von bezeichneten Normen entbindet den Hersteller nicht davon, die grundlegenden Anforderungen einzuhalten (Urteil BGer 2C_77/2016, 2C_78/2016 vom 10. April 2017). Bezeichnete Normen befreien folglich nicht von der Haftung, können jedoch die Schadenswahrscheinlichkeit verringern (Blue Guide S. 13 Fn. 26). Andernfalls bestünde die Gefahr, dass mit der Bezeichnung von Normen, die u.U. lückenhaft sind, die im Gesetz oder Verordnung verankerten grundlegenden Anforderungen ausgehebelt werden.

6. Fazit

[29]

Die Prüfung der Anforderungen an einen Rechtssatz ergab, dass die Bezeichnung diesen Anforderungen nicht genügt. Ferner wurde deutlich, dass sich die Rechtswirkung (Vermutungswirkung) aus einem Gesetz oder einer Verordnung ergibt. Die Rechtswirkung ist dabei suspensiv bedingt. Mit der Bezeichnung von Normen wird diese Bedingung erfüllt und das durch Gesetz oder Verordnung verliehene Recht kann zur Anwendung gelangen. Nach der hier vertretenen Ansicht handelt es sich somit bei der Bezeichnung um einen Beschluss einer Bundesbehörde im Sinne von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe c PublG zwecks Umsetzung der neuen Konzeption und nicht um einen Rechtssetzungsakt.


Dr. iur. Rebekka Holenstein Pfenninger, Stv. Leiterin Nichttarifarische Massnahmen im Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern.


Literatur- und Materialienverzeichnis

  • Bundesrat (1995): Botschaft vom 15. Februar 1995 zu einem Bundesgesetz über die technischen Handelshemmnisse (THG), BBl 1995 II 521 (zit. Botschaft THG).
  • Bundesrat (1996): Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1 (zit. Botschaft neue BV).
  • Bundesrat (2003): Botschaft vom 22. Oktober 2003 zum Bundesgesetz über die Sammlungen des Bundesrechts und das Bundesblatt (Publikationsgesetz, PublG), BBl 2003 7711 (zit. Botschaft PublG).
  • Europäische Kommission (2018): Durchführungsbeschluss (EU) 2018/2048 der Kommission vom 20. Dezember 2018, Amtsblatt der Europäischen Union L 327/84 (zit. Durchführungsbeschluss (EU) 2018/2048).
  • Europäische Kommission (2016): Mitteilung der Europäischen Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 («Blue Guide»), Amtsblatt der Europäischen Union 2016/C 272, S. 1 (zit. Blue Guide).
  • Europäisches Parlament (2017): Entschliessungen des Europäischen Parlaments vom 4. Juli 2017 P8_TA (2017) 0278, Amtsblatt der Europäischen Union 2018/C 334/01, S. 4 (zit. Entschliessung des EU Parlaments).
  • Schindler, Benjamin Tschumi, Tobias (2014): Art. 5, in: Ehrenzeller, Bernhard / Schindler, Benjamin / Schweizer, Rainer J. / Vallender, Klaus A. (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen.
  • Uhlmann, Felix (2013): «Die Normen können bei ... bezogen werden» – Gedanken zur Publikation und Verbindlichkeit privater Normen, in: LeGes 24 (2013) 1, S. 89 ff.

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