Der Kanton Bern zeichnet sich durch verschiedene Merkmale aus, die dazu führten, dass er bei der Bewältigung der Corona-Pandemie besonders gefordert war: Bern ist eine «Schweiz im Kleinen» mit städtischen und ländlichen Gebieten, dynamischen und strukturschwachen Regionen und 339 Gemeinden. Der Kanton verfügt über Tourismusdestinationen mit mehreren grossen Skigebieten und ist Hauptstadtkanton und damit Zentrum und bevorzugter Standort für politische Kundgebungen. Er hat mehrere Sportclubs in der obersten Liga (ein Fussballclub und drei Eishockeyclubs) und ist damit, sowie als Messestadt, Austragungsort für zahlreiche Grossveranstaltungen, die unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen stattfinden. Der Kanton weist zudem eine heterogene Struktur mit über 70’000 Unternehmen und einer Vielzahl von Kulturschaffenden auf, was eine Herausforderung für den Vollzug der Unterstützungsmassnahmen darstellte. Sodann verfügt er mit dem Inselspital über eines der fünf Universitätsspitäler und im Raum Bern über eine hohe Spitaldichte, was schon früh in der Pandemie verschiedene Massnahmen für das Gesundheitswesen erforderte. Schliesslich ist Bern zweisprachig, was den Rechtsetzungsprozess aufwändiger macht.
Die Corona-Pandemie verlief in verschiedenen Phasen. Die Ausgangslage für die Rechtsetzung im Kanton Bern war je nach Pandemiephase unterschiedlich:
- In der ausserordentlichen Lage (20.03.2020 – 19.06.2020) stützte sich der Regierungsrat auf Artikel 91 der Kantonsverfassung (KV; BSG 101.1). Dieser räumt ihm weitreichende Notrechtskompetenzen ein.
- In der besonderen Lage (ab 19.06.2020) bildeten das Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen vom 18. Dezember 1970 (Epidemiengesetz; SR 818.101) und die Covid-19-Gesetzgebung des Bundes die Grundlagen für kantonale Erlasse zur Pandemiebekämpfung. In einem ersten Teil dieser Phase setzte der Kanton Bern zunächst viel eigenes materielles Recht: In der Verordnung vom 4. November 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19 V; BSG 815.123), erliess er insbesondere strengere Regeln zu Massnahmen für Veranstaltungen, Restaurationsbetriebe (insb. Kontaktdatenerhebung), Schulen (Maskenpflicht), Freizeiteinrichtungen und Sport, maximale Teilnehmerzahl bei Kundgebungen usw. In einem zweiten Teil dieser Phase (ab dem 22.12.2020) stand dagegen der Erlass von Vollzugsbestimmungen im Vordergrund, da der Bund inzwischen weitgehende Massnahmen für die ganze Schweiz angeordnet hatte. Allerdings waren auch dazu eingehende Regulierungen notwendig (z. B. bzgl. Skigebiete und Wintersportorte).
In allen Phasen erliess der Kanton Bern Verordnungsrecht zur Unterstützung von Wirtschaft und Kulturschaffenden, teils durch Notrecht, teils mittels ordentlichem Verordnungsrecht.
Der Regierungsrat hat an insgesamt rund 50 Sitzungen rechtsetzende Beschlüsse (insb. Neuerlass und Änderungen von Verordnungsrecht) zur Bewältigung der Corona-Pandemie gefällt. Diese mündeten in sechs Notverordnungen und sieben ordentliche Verordnungen. Fünf Regierungsratsbeschlüsse enthielten Zuständigkeitsregelungen zur Umsetzung der bundesrechtlichen Covid-19-Massnahmen und wiesen damit – obwohl nicht in der Form der Verordnung erlassen – rechtsetzenden Charakter auf. Auf Direktionsstufe wurden im Schulbereich zwei Verordnungen erlassen. Sämtliche Erlasse wurden (zum Teil mehrfach) ergänzt und revidiert. Die ausserordentlichen Veröffentlichungen (vgl. Art. 7 und 8 des Publikationsgesetzes vom 18. Januar 1993, PuG; BSG 103.1) lagen mit 32 im Jahr 2020 und 20 bis September 2021 weit über dem Durchschnitt von jährlich sieben ausserordentlichen Veröffentlichungen in den Jahren 2005–2009.1
In fünf Fällen wurde Verordnungsrecht des Regierungsrats bzw. ein Genehmigungsbeschluss des Grossen Rates angefochten. Zuständig dafür ist direkt das Bundesgericht (Art. 82 Bst. b des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005,
Der Kanton Bern kennt, mit Ausnahme der dringlichen Vollzugsbestimmungen zur Einführung von übergeordnetem Recht gemäss Artikel 88 Absatz 3 KV, kein dringliches Gesetzgebungsverfahren (vgl. demgegenüber für den Bund Art. 165 der Bundesverfassung,
Die Notverordnungskompetenz gemäss Artikel 91 KV sieht für ausserordentliche Lagen Folgendes vor:
Der Regierungsrat kann ohne gesetzliche Grundlage Massnahmen ergreifen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie sozialen Notständen zu begegnen. Verordnungen sind sofort durch den Grossen Rat genehmigen zu lassen; sie fallen spätestens ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten dahin.
Damit kann der Regierungsrat auch ohne gesetzliche Grundlage Verordnungen erlassen und dabei notfalls auch von der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung abweichen. Zudem ist er nicht an die ordentlichen Ausgabenbefugnisse gebunden und kann auch in Grundrechte eingreifen, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt und das Verhältnismässigkeitsprinzip sowie der Kerngehalt des Grundrechts gewahrt sind (vgl. Bolz 1995, Art. 91 N. 5; zum Inhalt der Notrechtskompetenz s. auch ein Gutachten von Felix Uhlmann, S. 5 ff.2).
Mit dem Erlass von Notrecht betrat der Kanton Bern Neuland. In der Praxis bestanden kaum Erfahrungen mit der Anwendung von Artikel 91 KV. Dementsprechend stellten sich zahlreiche Fragen, insbesondere zur Rolle des Parlaments und dessen Zusammenwirken mit dem Regierungsrat. Unklar war etwa:
- Welche Vorläufe und Prozesse sind im Vorfeld zu beachten? Welche Kommission berät die Notrechtsgeschäfte vor und welche Fristen gelten? – In Bern wurde entschieden, dass die Finanzkommission bis auf Weiteres zuständig ist.
- Umfang der Genehmigungsbefugnis des Parlaments: Hat der Grosse Rat das Notrecht integral und «tel quel» zu genehmigen, oder sind auch Teil-Genehmigungen oder gar Abänderungen möglich?
- Was heisst «sofort» genehmigen konkret? Muss das Parlament (Grosser Rat) umgehend zu einer zusätzlichen Session einberufen werden oder reicht es, wenn das Notrechtsgeschäft in der nächstmöglichen Session behandelt wird? – Im Kanton Bern tagt das Parlament viermal pro Jahr; es wurden keine ausserordentlichen Sessionen einberufen.
- Tritt die Rechtsfolge bei Nicht-Genehmigung des Notrechts ab dem Genehmigungsentscheid (ex nunc) oder ab dem vom Regierungsrat festgelegten Inkrafttretenszeitpunkt (ex tunc) ein?
Einige der Fragen konnten durch ein Gutachten von Felix Uhlmann3 sowie einen Bericht der vorberatenden Finanzkommission4 geklärt werden.
Das Rechtsetzungsverfahren zeichnete sich in der Pandemie aufgrund des grossen Zeitdrucks und der hohen Kadenz an Anpassungen der jeweiligen Massnahmen durch mehrere Besonderheiten aus:
Das kantonale Recht sieht für das ordentliche Rechtsetzungsverfahren verschiedene Qualitätssicherungsprozesse vor: Mitberichtsverfahren, Konsultationen, Vernehmlassung, Legistik-Begleitung (vgl. Art. 64 KV; Art. 36 und 41 des Gesetzes über die Organisation des Regierungsrates und der Verwaltung vom 20. Juni 1995, OrG; BSG 152.01; Verordnung vom 26. Juni 1996 über das Vernehmlassungs- und das Mitberichtsverfahren, VMV; BSG 152.025). Diese Prozesse konnten zeitbedingt nur eingeschränkt oder gar nicht eingehalten werden:
- Oftmals wurde kein ordentliches Mitberichtsverfahren bei den Direktionen und ev. weiteren Behörden durchgeführt. Stattdessen erfolgte eine Konsolidierung der Erlassentwürfe über die Generalsekretariate der Direktionen, wobei die erforderlichen Bereinigungen nicht selten in Form von informellen Absprachen und, bei extremem Zeitdruck, «ad-hoc-Konsolidierungen» zwischen den Verwaltungsspitzen stattfanden.
- Es fanden keine externen Vernehmlassungen und Konsultationen statt; immerhin gab es bei einzelnen Geschäften punktuelle Kontakte zu direktbetroffenen Verbänden (s. Ziff. 4.2).
- Die begleitenden Legistikdienste (s. Art. 3 VMV) konnten oft nur punktuell und mit sehr kurzen Fristen einbezogen werden.
- Die Staatskanzlei erhielt im Rechtsetzungsprozess ein grösseres Gewicht, indem ihre zentrale Scharnier- und Koordinationsfunktion zusätzlich akzentuiert wurde. Sie übernahm die Federführung in den einzelnen Verfahrensschritten (Konsolidierung der Erlassentwürfe, Übersetzung, Traktandierung für die Regierungssitzung, Kontakte zum Parlament usw.) und engagierte sich stärker als sonst in inhaltlichen Fragen. Die Primärverantwortung für das materielle Recht verblieb aber stets bei der jeweiligen Fachdirektion.
- Die Krisenstäbe wurden in den Rechtsetzungsprozess involviert. Dazu gehörten zum einen das gesetzliche vorgesehene kantonale Führungsorgan (KFO) sowie zum anderen neue zur Bewältigung der Krise gebildete Gefässe wie etwa die Taskforce der Generalsekretärinnen und Generalsekretäre sowie der Sonderstab Corona der Gesundheits, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI).
- Die Anliegen der Gemeinden und Städte, die mitunter für den Vollzug verantwortlich waren, wurden über den Verband Bernischer Gemeinden sowie mittels institutionalisierter Telefonkonferenzen zu berücksichtigen versucht. Gleichwohl konnte der Einbezug der kommunalen Ebene nicht immer im gewünschten Mass gewährleistet werden. Die von den Normen hauptbetroffenen Verbände (insb. aus Gastronomie, Kultur oder Wirtschaft) konnten kaum in den Rechtsetzungsprozess involviert werden.
- Die Erlasse mussten fast immer auf ausserordentlichem Weg veröffentlicht werden.
- Die Kommunikation spielte in der Pandemie eine zentrale Rolle, was sich auch auf die Art der Regulierung auswirkte: Der Wechselwirkung zwischen Kommunikation, Akzeptanz und wirksamem Vollzug der Massnahmen wurde dadurch Rechnung getragen, dass so einfach und wenig differenziert wie möglich reguliert wurde (z. B. keine Unterscheidung nach Räumlichkeiten bei Maskenpflicht in Schulgebäuden).
Was die Abstützung auf gesichertes Fachwissen («evidenzbasierte Rechtsetzung») anbelangt, stützte sich der Kanton Bern weitgehend auf die Erkenntnisse des Bundes und seiner Science Taskforce ab; er erarbeitete keine eigenen Studien und Prognosen. Ein bernisches Fachgremium, das mit der Taskforce des Bundes vergleichbar wäre, bestand daher nicht. Immerhin war jedoch das Inselspital im Krisenstab der GSI vertreten, wodurch wichtige fachliche Aspekte auf institutionalisiertem Weg in den politischen Rechtsetzungsprozess einfliessen konnten.
Lernprozesse fanden statt, indem vor allem die eigenen Erfahrungen aus der Krise genutzt wurden, um den Rechtsetzungsprozess fortlaufend zu optimieren. So wurden etwa vermehrt die Gemeinden einbezogen und die Staatskanzlei als Drehscheibe für sämtliche Covid-Rechtsetzungsgeschäfte etabliert. Eine Verbesserung gelang auch durch die hauptsächliche Rechtsetzung in einer «Masterverordnung» statt der Zersplitterung in Einzelanordnungen oder in mehrere sachspezifische Erlasse. Eine gewisse Evidenzbasierung wurde zudem dadurch gewährleistet, dass mittels Befristung der Massnahmen die nötige Flexibilität zur fortlaufenden Justierung geschaffen wurde. Sodann legte der Kanton Bern durch vergleichsweise frühe und strenge Massnahmen in der besonderen Lage (z. B. Einführung eines Ampelsystems für Grossveranstaltungen) den Boden für eine gewisse Evidenz im Rest der Schweiz (Auswirkungen von bernischen Massnahmen als Indikator für entsprechende Vorkehren in anderen Kantonen).
Für die Rechtsetzungsprozesse in der Corona-Pandemie hat sich rückblickend Folgendes bewährt:
- Erlass von generell-abstraktem Verordnungsrecht (statt Regelung durch Allgemeinverfügung oder Regierungsratsbeschluss);
- Regelung der Massnahmen im Rahmen einer einzigen «Masterverordnung» (statt in zersplitterten Einzelerlassen);
- Anlehnung an ordentliche und bewährte Prozesse (soweit irgendwie möglich);
- Etablierung einer «Taskforce GSK» auf Stufe Generalsekretariate und Staatsschreiber bzw. Vizestaatsschreiberin als Koordinationsgremium der Verwaltungsspitzen sowie punktueller Einbezug weiterer Krisenstäbe;
- Erlass von nicht zu differenzierten Regeln, die einfach zu vollziehen und zu kommunizieren sind (Wechselwirkung zwischen Kommunikation und Vollzug).
Die grössten Herausforderungen und Schwierigkeiten lagen demgegenüber hier:
- Mangelnde Erfahrung und Praxis mit der verfassungsrechtlichen Notrechtskompetenz der Regierung;
- Ungeklärte institutionelle Fragen zum Zusammenwirken zwischen Regierungsrat und Parlament in der ausserordentlichen Lage;
- Grosser Zeitdruck bei kurzfristigen Anpassungen an das Bundesrecht;
- Ungenügender Einbezug der hauptbetroffenen Normadressaten;
- Nicht optimaler Einbezug der Gemeinden und Städte.
Dr. iur. Christoph Auer, LL.M., Staatsschreiber des Kantons Bern.
- Bolz, Urs (1995): Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Bern.
- Herzog, Ruth (2020): in: Herzog, Ruth / Daum, Michel (Hrsg.), Kommentar zum bernischen VRPG, 2. Aufl., Bern.
- Rechsteiner, David (2016): Recht in besonderen und ausserordentlichen Lagen, Diss. St. Gallen, Zürich/St. Gallen (integral online verfügbar).
- 1 Stand für alle Zahlen: September 2021.
- 2 Einsehbar unter: Gutachten vom 19. August 2020 (Medienmitteilung der Finanzkommission vom 01.09.2020; www.gr.be.ch).
- 3 Vgl. Fussnote 2.
- 4 Einsehbar unter: Bericht der Finanzkommission zu den Notverordnungen des Regierungsrates (Medienmitteilung der Finanzkommission vom 15.05.2020; www.gr.be.ch).