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Die Literatur hat ein zunehmendes Interesse an Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung (Verfahrensleitung) des Parlaments gezeigt (Weil 2023; Wirz/Vatter 2015). Bei solchen Gesetzgebungsprojekten setzt das Parlament – genauer gesagt eine parlamentarische Kommission – ein Thema auf die Gesetzgebungsagenda, d.h. erteilt nach der Vorprüfung einer parlamentarischen Initiative oder Standesinitiative einen Gesetzgebungsauftrag an die Bundesverwaltung zur Ausarbeitung eines Gesetzes (Lüthi 2009: 369). Die parlamentarische Kommission hat dann die Federführung im weiteren Gesetzgebungsprozess (Müller/Uhlmann 2013, 291). Dies ist erwähnenswert, da bei den meisten Gesetzgebungsprojekten der Bundesrat einen Gesetzgebungsauftrag an die Bundesverwaltung erteilt und schliesslich die Federführung über den Gesetzgebungsprozess hat (Müller/Uhlmann 2013: 296–298). Die Literatur hat die Entstehung von Gesetzen unter der Federführung des Parlaments untersucht und betont insbesondere die zunehmende Beliebtheit der parlamentarischen Initiative unter den Parlamentarierinnen und Parlamentariern (Brüschweiler/Vatter 2018; Lüthi 2009; Pfister 2009) und die zunehmende Beliebtheit der Standesinitiative bei den Kantonen (Neuenschwander 2006; Vatter 2018, 48–49). Heute findet bei mehr als jedem fünften Gesetzgebungsprojekt, das zu einem Politikwechsel führt, die Genese unter der Federführung des Parlaments statt (Vatter 2020, 288). Standesinitiativen stehen bei weniger als einem Prozent der Gesetzesänderungen am Ursprung (Jaquet et al. 2019: 224–225).
Obwohl Gesetzgebungsprojekte unter der Federführung des Parlaments heute alles andere als eine Ausnahme sind, besteht eine Unklarheit darüber, wie die Entscheidungsprozesse rund um solche Gesetzgebungsprojekte ablaufen. Deskriptive Statistiken über die Häufigkeit von parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen sind nämlich nicht aufschlussreich bezüglich Dynamiken in politischen Entscheidungsprozessen (Burri 2007; Jaquet et al. 2019; Schwarz et al. 2011; Utz 2005). Wichtige Vorgänge finden weitgehend hinter verschlossenen Türen statt, d.h. in parlamentarischen Kommissionen. Diese sind als «zentraler Ort der Gesetzgebung» anerkannt (Lüthi 2003, 64), aber Diskussionen in den parlamentarischen Kommissionen sind vertraulich und somit für Aussenstehende im Dunkeln.
Folglich haben Autorinnen und Autoren widersprüchliche Annahmen über den Prozess der Genese von Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments getroffen. Zum einen gehen einige Autorinnen und Autoren davon aus, dass die parlamentarischen Kommissionen unabhängig und in aller Eile Themen auf die Gesetzgebungsagenda setzen und dann eigenständig Gesetze entwerfen (Griffel 2014; Griffel 2022, 70). Diese Annahme ist jedoch fragwürdig, wenn man bedenkt, dass parlamentarische Kommissionen nicht in einer Blase handeln. Das Parlament ist aufgrund von Informationsnachteilen auf die Expertise und Unterstützung der Bundesverwaltung angewiesen (Lüthi 2009; Vatter 2020, 302–304) und die Bundesverwaltung kann in den parlamentarischen Kommissionen mitwirken (Graf 2010; Mader 2010). Zudem werden mit parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen häufig Anliegen artikuliert, zu welchen in der Bundesverwaltung bereits Arbeiten im Gange sind (Leutwyler 2014, 78; Neuenschwander 2006, 125).
Zum anderen gehen deswegen viele Autorinnen und Autoren davon aus, dass es einen Austausch zwischen der parlamentarischen Kommission und der Bundesverwaltung geben könnte (Lüthi 2009; Müller/Uhlmann 2013, 291). Es bleibt somit das Puzzleteil übrig, wie das «Duell mit Verwaltung oder Regierung» funktioniert (Pfister 2009, 375). Insbesondere bleibt dieses Duell – abgesehen vom formalen Verfahrensablauf1 – für die frühe Phase der Vorprüfung (es wird Folge gegeben; auch Phase I genannt) in der bestehenden Literatur weitgehend unbeleuchtet (Lüthi 2009; Müller/Uhlmann 2013, 291 ff.). Deshalb gehe ich in diesem Beitrag der Frage nach, wie die politischen Entscheidungsprozesse bei Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments bis und mit Vorprüfung funktionieren und welches Gewicht die Bundesverwaltung und das Parlament in diesem Prozess haben. Die entsprechende Antwort birgt wichtige Implikationen für die auf Thesen beruhende Debatte über die Qualität der Gesetzgebung. Gesetze unter der Federführung des Parlaments werden in (Teilen) der Rechtswissenschaft/Rechtsetzungslehre nämlich als das Hauptproblem für die Qualität von Bundesgesetzen gesehen (Griffel 2014; Griffel 2022, 70; Müller 2007; Müller/Uhlmann 2013, 292).
In diesem Beitrag gehe ich in mehreren Schritten vor. Als nächstes führe ich auf einer theoretischen Ebene eine Prozessdynamik ein, welche das politische Ringen zwischen parlamentarischen Kommissionen und der Bundesverwaltung bis und mit Phase der Vorprüfung beschreibt. Anschliessend führe ich nach der Erläuterung der Methode und Daten die Ergebnisse aus zwei Fallstudien vor, in denen ich die Entscheidungsprozesse in historischen Fällen verfolgte. Daraufhin diskutiere ich die Implikationen der Ergebnisse vor dem Hintergrund der Debatte über die Qualität von Bundesgesetzen.
Institutionelle Agenda (politische Entscheidungsträger des politischen Systems der Schweiz widmen einem Thema ihre Aufmerksamkeit). Die Grundvoraussetzung für einen Entscheidungsprozess rund um ein künftiges Gesetzgebungsprojekt ist, dass ein Thema auf der institutionellen Agenda liegt. Dies bedeutet, dass sich die politischen Entscheidungsträger des politischen Systems der Schweiz und deren enge Kreise zu einem bestimmten Zeitpunkt ernsthaft mit einem bestimmten Thema befassen (Cobb/Elder 1971, 906). Anders ausgedrückt: Liegt ein Thema nicht auf der institutionellen Agenda, wird kein Entscheidungsprozess darüber folgen, ob und in welcher Form eine Gesetzesänderung notwendig ist.
Teil 1 (Parlament und/oder Kanton artikuliert Anliegen für ein Gesetzgebungsprojekt mittels parlamentarischer Initiative/Standesinitiative). Die Prämisse des ersten Teils der Prozessdynamik ist, dass eine konfliktreiche Situation zwischen dem Parlament und dem Bundesrat/der Bundesverwaltung vorliegt. Aufgrund der Ausgestaltung des politischen Systems der Schweiz kann das Parlament, genauer gesagt die Parlamentsmehrheit oder die Mehrheit in einer parlamentarischen Kommission, durchaus andere Anliegen haben als eine Mehrheit im Bundesrat und der Bundesverwaltung (Lüthi 2009, 365–366).
Grundsätzlich können im Parlament verschiedene Instrumente eingesetzt werden, um Impulse für Gesetzgebungsprojekte zu setzen (z.B. Aufträge des Parlaments an den Bundesrat in Form von überwiesenen Motionen). Allerdings stehen Motionen nur selten direkt mit der Initiierung eines Gesetzgebungsprozesses in Verbindung (Graf 2007, 12; Graf 2019). Erstens werden viele Motionen nicht in den Räten behandelt (Pfister 2009, 377). Zweitens steht der Bundesrat/die Bundesverwaltung überwiesenen Motionen allenfalls ablehnend gegenüber. Dies kann eine inhalts- und zeitgerechte Umsetzung der Motion erschweren (Lüthi 2009, 365–366). Drittens kann die Umsetzung von Motionen lange dauern wegen langwierigen verwaltungsinternen Vorgängen und Faktoren wie Kapazitätsengpässen in der Bundesverwaltung (Lüthi 2023; Stadelmann-Steffen et al. 2021).
Es gibt aber noch stärkere Instrumente, welche im Parlament eingereicht werden können, als die Motion: die parlamentarische Initiative und die Standesinitiative. Diese beiden Instrumente eignen sich gut, um regierungskritische und punktuelle Anliegen zu artikulieren. Erstens haben parlamentarische Initiativen und Standesinitiativen einen regierungskritischen Charakter, weil damit oft Anliegen, welche im Bundesrat nicht mehrheitsfähig sind, zum Durchbruch verholfen wird. Anstelle des Bundesrates setzt eine parlamentarische Kommission ein Anliegen auf die Gesetzgebungsagenda und hat die Federführung über den nachfolgenden Gesetzgebungsprozess. Damit liegt im Vergleich zu Motionen mehr Macht in den Händen des Parlaments (Müller/Uhlmann 2013, 285 ff.). Parlamentarische Initiativen und Standesinitiativen werden deshalb eingereicht, wenn a) Motionen nicht zum gewünschten Ziel geführt haben oder b) von vorhinein klar ist, dass Motionen nicht zum gewünschten Ziel führen werden, weil das Anliegen nicht im Interesse des Bundesrates/der Bundesverwaltung liegt (Lüthi 2009, 365–366; Pfister 2009, 378). Zweitens sind parlamentarische Initiativen und Standesinitiativen für punktuelle Anliegen effizient, d.h. für die Absicht, einen einzelnen Artikel eines bestehenden Gesetzes zu ändern (Fontana et al. 2015, 51; Leutwyler 2014, 79).2 Das Parlament setzt in der Regel Impulse für eher kleine Gesetzesänderungen. Die Initiierung grösseren Politikwandels und komplexer Gesetzgebungsvorhaben erfordert das Engagement und die Ressourcen der Bundesverwaltung (Jaquet et al. 2019, 227–228; Pfister 2009, 382).
Teil 2 (Bundesverwaltung entgegnet mit eigenen Vorschlägen). Der zweite Teil der Prozessdynamik beruht auf zwei Prämissen. Erstens ist die Bundesverwaltung ein politischer Akteur mit eigenen politischen Interessen (Graf 2007, 11; Lüthi 2009, 370; Pfister 2009, 377–378). Zweitens muss die Bundesverwaltung das Parlament bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützen, weil Parlamentarierinnen und Parlamentarier gegenüber dem Bundesrat/der Bundesverwaltung einen Ressourcen- und Informationsnachteil haben (Vatter 2020, 302–304) und die Parlamentsdienste im Vergleich zur Bundesverwaltung wenig ausgebaut sind (Lüthi 2009, 369; Mader 2010, 9). Dementsprechend haben die parlamentarischen Kommissionen ein Auskunftsrecht gegenüber der Bundesverwaltung (und dem Bundesrat) im Allgemeinen sowie bei Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments (Mader 2010). In der Regel ist die Bundesverwaltung an der Vorprüfung von parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen beteiligt (Graf 2014a, 777). Simpel ausgedrückt, sitzen Vertreterinnen und Vertreter der Bundesverwaltung in den parlamentarischen Kommissionen, wenn die Parlamentarierinnen und Parlamentarier über die Annahme/Ablehnung einer parlamentarischen Initiative oder Standesinitiative beraten und entscheiden.
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass der Bundesrat und die Bundesverwaltung parlamentarische Initiativen und Standesinitiativen nicht gutheissen. Zum einen sind solche Initiativen (wie oben dargelegt) tendenziell Instrumente, mit denen regierungskritische Anliegen artikuliert werden. Deswegen ist der Bundesrat oft alles andere als begeistert von parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen (Pfister 2009, 377). Zum anderen ist auch die Bundesverwaltung oft skeptisch gegenüber solchen Initiativen, weil sie inhaltlich weniger Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen kann als bei herkömmlichen Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Bundesrates (Lüthi 2009, 370). Die logische Konsequenz ist, dass die Bundesverwaltung versucht, die Initiativen in der Phase der Vorprüfung abzuwehren. Die Bundesverwaltung hat zwar keine Vetomöglichkeit, aber sie kann sich diskursiv in die Entscheidungsprozesse einbringen (Graf 2010, 5–6; Mader 2010, 9). Das bedeutet, dass die Bundesverwaltung etwas im Abseits steht. Aber sie kann durchaus in der parlamentarischen Kommission ihren Standpunkt kundtun und hat die Möglichkeit, eine Beurteilung der Initiative zuhanden der parlamentarischen Kommission abzugeben. Zudem muss die Bundesverwaltung die Fragen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier beantworten.
Aufgrund ihrer umfänglichen Ressourcen, wie z.B. Informationen (Müller/Uhlmann 2013, 297 ff.; Schwarz et al. 2011, 135), hat die Bundesverwaltung «das grosse Ganze» in Bezug auf ein bestimmtes Politikfeld oder Gesetz im Blick. Beispielsweise kennen die Expertinnen und Experten des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements das Asylsystem und den entsprechenden rechtlichen Rahmen sehr gut. Daher ist es naheliegend, dass die Bundesverwaltung das punktuelle Anliegen einer parlamentarischen Initiative oder Standesinitiative in einen grösseren Zusammenhang stellt. Die Bundesverwaltung kann daher argumentieren, dass es nicht angemessen erscheint, einen Detailaspekt aus einem Gesamtkonstrukt (der bestehenden Rechtsrahmen) herauszulösen und ein punktuelles Anliegen im Rahmen eines Gesetzgebungsprojektes unter der Federführung des Parlaments zu behandeln. Des Weiteren kann argumentiert werden, dass auch andere gesetzgeberische Optionen in Betracht zu ziehen sind, etwa das Anliegen der Initiative in bereits laufende oder für die absehbare Zukunft geplante Aktivitäten der Bundesverwaltung zu integrieren und von der Annahme der Initiative abzusehen. Mit anderen Worten: Die Bundesverwaltung kann der Initiative entgegentreten, indem sie deren Sinnhaftigkeit in Frage stellt und gegebenenfalls politische Alternativen sowie verschiedene gesetzgeberische Möglichkeiten aufzeigt, wie und wo das Anliegen der Initiative aufgegriffen werden könnte.
Teil 3 (Parlament wägt mehrere Optionen ab). Dementsprechend gibt es nun ein komplexes Bündel von Meinungen, politischen Alternativen und gesetzgeberischen Optionen zu einem Thema: solche vom Parlament und/oder einem Kanton und solche von der Bundesverwaltung. Die parlamentarische Kommission muss also verschiedene Optionen abwägen und Entscheide treffen. Eine erste grundsätzliche Frage, die es zu klären gilt: Gibt es einen Bedarf an gesetzgeberischer Tätigkeit? Stösst das Anliegen der Initiative in der parlamentarischen Kommission auf breite Sympathie, sind weitere Fragen zu klären: Wo soll das Anliegen der Initiative aufgenommen werden (d.h. in welchem Gesetzgebungsprojekt soll das Anliegen inkludiert werden)? Oder genauer: Soll der Initiative Folge gegeben werden oder soll sie sistiert werden, um die laufenden Aktivitäten des Bundesrates/der Bundesverwaltung im Zusammenhang mit dem Anliegen der Initiative abzuwarten? Soll auf eine bestimmte von der Bundesverwaltung vorgeschlagene gesetzgeberische Option zurückgegriffen und damit der Initiative nicht Folge gegeben werden, oder soll ein Gesetzgebungsprojekt unter eigener Federführung in Angriff genommen werden (d.h. soll einer Initiative Folge gegeben werden)? Entscheiden sich die parlamentarischen Kommissionen, der Initiative Folge zu geben, stellt sich abschliessend folgende Frage: Was genau soll der Inhalt eines künftigen Gesetzesentwurfs sein?
Parlamentarische Kommissionen haben guten Grund, ein Gesetzgebungsprojekt an die eigene Hand zu nehmen, d.h. die parlamentarische Kommission gibt der Initiative Folge und erteilt einen Gesetzgebungsauftrag. Erstens hat die parlamentarische Kommission die Federführung im nachfolgenden Gesetzgebungsprozess (Müller/Uhlmann 2013, 291). Zweitens können Gesetzgebungsprojekte unter der eigenen Federführung schneller zum Ziel einer parlamentarischen Kommission führen – zumindest, wenn es stabile Mehrheiten gibt. Denn es können «verwaltungsinterne Leerläufe vermieden werden» (Lüthi 2023, 1).
Gesetzgebungsagenda (Gesetzgebungsauftrag an die Bundesverwaltung). Schliesslich liegen ein Thema und gewisse politische Alternativen auf der Gesetzgebungsagenda, d.h. ein Gesetzgebungsauftrag zur Ausarbeitung einer Gesetzesänderung liegt vor (ein Entwurf muss dann innerhalb von zwei Jahren ausgearbeitet werden). Genauer gesagt, erteilt die erstberatende Kommission einen Gesetzgebungsauftrag an die Bundesverwaltung. Die parlamentarischen Kommissionen greifen somit auf die Ressourcen und das Fachwissen der Bundesverwaltung zurück (Lüthi 2009, 369), um die Qualität der Gesetzgebung zu garantieren. Salopp gesagt: Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier überlassen «den Profis» die eigentliche Gesetzgebungsarbeit.
Für die empirische Untersuchung wählte ich qualitative Fallstudien, weil diese optimal geeignet sind, um komplexe Entscheidungsprozesse zwischen verschiedenen politischen Akteuren zu rekonstruieren (Beach/Pedersen 2019). Mit den Fallstudien überprüfte ich, ob die einzelnen Teile der oben postulierten Prozessdynamik auch in historischen Fällen vorliegen. Ein Fall umfasst einen Entscheidungsprozess bis und mit Gesetzgebungsauftrag. Für die Fallauswahl berücksichtigte ich Fälle, bei denen das Parlament die Vorlage in der Dekade zwischen 2011 und 2021 beriet (das Datum des Gesetzgebungsauftrages ist ohne profunde Fallkenntnisse nicht ersichtlich). Zum einen gewährte dieser Zeitraum einen (einigermassen) konstanten politischen Kontext und gewährleistete somit eine Vergleichbarkeit der Fälle. Zum anderen ermöglichte dieser Zeitraum, viele Daten zu sammeln. Insbesondere wurde damit das Risiko von Erinnerungslücken bei interviewten Personen minimiert (weiter unten mehr zu den Interviews). Innerhalb dieses Kontextes wählte ich je einen Fall, bei dem eine Standesinitiative und eine parlamentarische Initiative zentral war. Denn wie weiter oben ausgeführt, fusst ein Gesetzgebungsprojekt unter der Federführung des Parlaments auf einer parlamentarischen Initiative oder einer Standesinitiative. Das Parlament bringt sich typischerweise, u.a. mit parlamentarischen Initiativen, in parteipolitisch umkämpften Themengebieten als Initiator ein (Jaquet et al. 2019, 229–230). Standesinitiativen werden zu diversen Themen eingereicht. Aber oft beziehen sich Standesinitiativen auf Themenbereiche, bei denen Kantone eine Vollzugskompetenz haben und sich die Interessen von Bund und Kantonen unterscheiden (Vatter 2018, 50). Deshalb suchte ich in Curia Vista (Geschäftsdatenbank des Parlaments) über eine Stichwortsuche nach einer parlamentarischen Initiative im Migrationsbereich und einer Standesinitiative im Raumplanungsbereich. Folgende beiden Fälle erfüllten alle Kriterien der Fallauswahl: Gesetzgebungsprojekt 16.403 (parlamentarische Initiative) und 08.314 (Standesinitiative).
Die Fallstudien erforderten umfassende Daten qualitativer Natur. Eine wichtige Datengrundlage bildeten Dokumente. Einschlusskriterium der Dokumente war, dass diese Informationen über den Entscheidungsprozess bis und mit Gesetzgebungsauftrag enthalten. Besonders erwähnenswert ist, dass ich die Kommissionsprotokolle untersuchte. Aufgrund der Vertraulichkeit enthalten diese Protokolle sehr zuverlässige Informationen. Neben den Kommissionsprotokollen umfasste mein Grundkorpus den Einreichungstext und die Begründung der Initiative, die Stellungnahme des Bundesrates, den erläuternden Bericht zur Vernehmlassungsvorlage und den Vernehmlassungsbericht. Von diesem Grundkorpus aus stiess ich auf Medienmitteilungen (z.B. des Bundesrates), weitere offizielle Dokumente (z.B. Berichte der Bundesverwaltung/des Bundesrates oder parlamentarischer Kommissionen) und mit der Initiative verwandte politische Vorstösse inklusive Begründung und Stellungnahmen des Bundesrates. Für den Fall bzgl. der Standesinitiative lagen zusätzlich Dokumente wie z.B. das Protokoll des Kantonsrates vor. Um den Kontext der Fälle besser zu verstehen, zog ich auch Medienartikel und Sekundärliteratur herbei.
Darüber hinaus führte ich halbstrukturierte Experteninterviews (fünf bis sechs Interviews pro Fall). Konkret handelte es sich um Personen, welche direkt am Entscheidungsprozess beteiligt waren: Parlamentarierinnen und Parlamentarier, Personen aus der Bundesverwaltung und den Parlamentsdiensten sowie Vertreterinnen und Vertreter von Kantonen. Somit konnte ich Insider-Wissen generieren. Die Interviews wurden zwischen November 2021 und Juni 2022 durchgeführt und transkribiert. Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner folgte einer Schneeballsampling-Strategie. Das heisst, nachdem ich einen ersten Zugang zum Feld hatte, folgte ich den Hinweisen aus den Interviews, welche weiteren Personen interviewt werden könnten. Ich stoppte die Interviewphase, als ich keine neuen Informationen mehr gewinnen konnte. Teilweise stiess ich über die interviewten Personen auf weitere Dokumente, z.B. Verwaltungshandbücher einer kantonalen Verwaltung.
Schliesslich verglich ich die Informationen aus den verschiedenen Quellen sorgfältig. Erstens stellte ich die Interviews einander gegenüber. Zweitens glich ich die Informationen aus den verschiedenen Dokumenten miteinander ab. Drittens verglich ich die Informationen aus den Dokumenten und den Interviews.
Gemäss dem Asylgesetz und der Genfer Flüchtlingskonvention ist ein Flüchtling, wer persönlich verfolgt wird (z.B. aufgrund der Religion oder Nationalität). Nach dieser Definition ist eine Person, welche vor einem Bombenhagel flieht, kein Flüchtling. Deshalb gewährt die Schweiz einer Person, welche die Voraussetzung für eine dauerhafte Aufnahme nicht erfüllt und die Schweiz verlassen soll, dies aber nicht möglich ist (z.B. wegen eines Krieges), in der Regel den Status der vorläufigen Aufnahme (Status F). Die meisten «vorläufig Aufgenommenen» bleiben jedoch de facto in der Schweiz. Für Personen, die Schutz suchen, aber keine Flüchtlinge im Sinne des Asylgesetzes und der Genfer Flüchtlingskonvention sind, besteht theoretisch auch der Status der Schutzbedürftigkeit (Status S). Dieser Status wurde für die Situation einer Massenflucht einer bestimmten Bevölkerungsgruppe konzipiert und kam bis zum hier diskutierten Entscheidungsprozess nie zur Anwendung.3
Institutionelle Agenda. Das Thema Status S und F lag rund ein Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende auf der institutionellen Agenda. So schrieb die Bundesverwaltung in einem Bericht aus dem Jahre 2011, dass der Status quo bei der Anwendung des Status F nicht zufriedenstellend sei. In den nachfolgenden Jahren evaluierte die Bundesverwaltung den rechtlichen Rahmen bezüglich Status F und S. Auch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier widmeten diesen beiden Status ihre Aufmerksamkeit. So wurde im Jahre 2012 eine Subkommission der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates eingesetzt, welche sich mit den beiden Status befasste. Zudem reichten Parlamentarierinnen und Parlamentarier über mehrere Jahre immer wieder parlamentarische Vorstösse zu den beiden Status F und S ein. Eine Person aus der Bundesverwaltung sagte in einem Interview: «Der Status S war ein Hobby einiger Parlamentarier.»
Teil 1. Im März 2016 reichte der damalige Ständerat Philipp Müller (FDP) eine parlamentarische Initiative ein, die auf eine Verschärfung des Familiennachzugs beim Status S abzielte. Müller wollte, dass die Regelung des Familiennachzugs für den Status S gleich wie für den Status F ist (d.h. einer dreijährigen Karenzfrist entspricht). Was war Müllers Argumentation? Der Status S sei die perfekte Lösung für Schutzsuchende aus Ländern wie Eritrea oder Syrien. Müller argumentierte jedoch, dass der sofortige Familiennachzug ein Hindernis für die Anwendung des Status S sei. Dieser Logik folgend musste Müller die Regelung des Familiennachzugs ändern, um einen «Pull-Effekt» (Signalwirkung der Schweiz als Zielland für Asylsuchende) bei der Anwendung des Status S zu vermeiden. Das bedeutet, dass das übergeordnete Ziel der parlamentarischen Initiative die Entlastung des Asylsystems war.
Die parlamentarische Initiative hatte einen punktuellen und regierungskritischen Charakter. Das Anliegen der parlamentarischen Initiative war punktuell, weil es darum ging, einen einzigen Artikel eines bestehenden Gesetzes (Asylgesetz) zu ändern. Zudem war das Anliegen regierungskritisch, weil der Bundesrat/die Bundesverwaltung die Konzeption des Status S als grundsätzlich mangelhaft und seine Anwendung für Personen aus Ländern wie Eritrea oder Syrien als unangemessen erachtete. Bspw. heisst es im Jahre 2014 in einer Stellungnahme des Bundesrates zu einer Interpellation: «Aktuell besteht keine Situation, für welche der Gesetzgeber die Anwendung der «Schutzbedürftigenregelung» vorgesehen hat. […]. Es überwiegen zum heutigen Zeitpunkt die Nachteile dieses Instruments.»
Teil 2. Folglich waren der Bundesrat und die Bundesverwaltung alles andere als begeistert von der parlamentarischen Initiative. Die Bundesverwaltung wollte zwar die mit dem Status F verbundenen Probleme angehen, jedoch aus einer Gesamtsicht heraus und nicht mit einer punktuellen Revision des Status S. Dementsprechend äusserte sich die Bundesverwaltung zurückhaltend, als die parlamentarische Kommission die parlamentarische Initiative diskutierte. Laut der Bundesverwaltung sei es schwierig, die Änderung eines Artikels abzuschätzen, der (bis damals) noch nie zur Anwendung kam. Es sei unklar, ob die beabsichtigte Änderung auch zur Anwendung des Status S führt. Zudem wies die Bundesverwaltung darauf hin, dass demnächst ein Bericht des Bundesrates über die Evaluation der Status F und S vorliegen werde. Der einige Wochen später veröffentlichte Bericht schlug die Schaffung eines neuen Status vor, der die Anwendung des Status F ersetzen sollte. Des Weiteren sollte eine Abschaffung des Status S geprüft werden.
Teil 3. Auf der Grundlage der Stellungnahmen der Bundesverwaltung in der parlamentarischen Kommission und des Berichts des Bundesrates hatte die parlamentarische Kommission mehrere Optionen zu diskutieren und zu entscheiden. Zunächst musste sie entscheiden, ob sie die parlamentarische Initiative sistiert, bis der Bericht des Bundesrates vorlag, oder ob sie der parlamentarischen Initiative Folge gibt. Ähnlich, als der Bericht vorlag, musste die parlamentarische Kommission entscheiden, ob sie die parlamentarische Initiative sistiert, weil der Bundesrat auf der Grundlage seines Berichts ein eigenes Gesetzgebungsprojekt in Angriff nehmen könnte, oder ob sie der parlamentarischen Initiative Folge gibt. Der Bericht des Bundesrates hatte mehrere parlamentarische Vorstösse zur Folge. Deshalb musste die parlamentarische Kommission auch entscheiden, ob sie die Anliegen der parlamentarischen Initiative mit einer Motion «verheiratet» und den Bundesrat «seine Arbeit machen lässt» oder ob sie der parlamentarischen Initiative Folge gibt und ein Gesetzgebungsprojekt unter eigener Federführung in Angriff nimmt. Die parlamentarische Kommission entschied sich schliesslich, ein eigenes Gesetzgebungsprojekt an die Hand zu nehmen. Es handle sich um eine einfache Gesetzesänderung und ein Gesetzgebungsprojekt unter der Federführung des Parlaments sei geeignet, das Asylgesetz rechtzeitig anzupassen. Es sei nicht nötig, auf ein Gesetzgebungsprojekt des Bundesrates/der Bundesverwaltung zu warten.
Gesetzgebungsagenda. Im Juni 2018 beauftragte die zuständige parlamentarische Kommission ihr Kommissionssekretariat, in Zusammenarbeit mit der Bundesverwaltung, einen Gesetzesentwurf und die entsprechenden Unterlagen für ein künftiges Vernehmlassungsverfahren auszuarbeiten. Die parlamentarische Kommission setzte das Thema durch diesen Gesetzgebungsauftrag auf die Gesetzgebungsagenda.
Mit dem Gewässerschutzgesetz von 1972 wurde der «Trennungsgrundsatz» von Bauzone und Nichtbauzone in das Bundesrecht eingeführt. Dieses Prinzip wurde 1980 weitgehend in das Raumplanungsgesetz übernommen – zumindest theoretisch, weil der Trennungsgrundsatz mit Ausnahmen und Vollzugsproblemen behaftet ist. Als das Gewässerschutzgesetz im Juli 1972 in Kraft trat, hing die Möglichkeit der Erweiterung und des Wiederaufbaus eines Gebäudes davon ab, ob es im Juli 1972 nichtlandwirtschaftlich oder landwirtschaftlich genutzt wurde. Das heisst, wenn ein Gebäude vor Juli 1972 landwirtschaftlich genutzt wurde, war der Wiederaufbau grundsätzlich untersagt.
Institutionelle Agenda. Das Thema des Wiederaufbaus von Gebäuden ausserhalb der Bauzone, die vor Juli 1972 landwirtschaftlich genutzt wurden, lag vor allem nach der Jahrhundertwende auf der institutionellen Agenda. Bis zum Jahre 2000 machten ländliche Kantone, wie der Kanton St. Gallen, beim Wiederaufbau keinen Unterschied zwischen landwirtschaftlich und nichtlandwirtschaftlich genutzten Gebäuden – ob diese Praxis zulässig war, ist eine andere Diskussion. Durch eine Änderung des Raumplanungsgesetzes im Jahre 1998 wurde diese Praxis jedoch definitiv in Frage gestellt. Demnach durfte ein Gebäude ausserhalb der Bauzone wieder aufgebaut werden, wenn es vor dem Stichtag im Jahre 1972 für nichtlandwirtschaftliche Zwecke genutzt wurde. War dies nicht der Fall (d.h. das Gebäude wurde vor dem Stichtag für landwirtschaftliche Zwecke genutzt), war der Wiederaufbau verboten. In der Folge kam es zu einem politischen Seilziehen zwischen den ländlichen Kantonen der Ostschweiz und dem Bundesrat/der Bundesverwaltung. Auch die zuständige parlamentarische Kommission diskutierte die Thematik immer wieder.
Teil 1. Im September 2007 wurde dann im St. Galler Kantonsrat eine Motion eingereicht, welche forderte, dass der Wiederaufbau von Gebäuden ausserhalb der Bauzone möglich sein soll, unabhängig davon, ob die Gebäude im Juli 1972 landwirtschaftlich oder nichtlandwirtschaftlich genutzt wurden. Die Motion wurde angenommen und schliesslich im Mai 2008 als Standesinitiative im Bundesparlament eingereicht. Was war die Argumentation des Kantons St. Gallen? Viele Gebäude ausserhalb der Bauzone waren alt und damit in einem schlechten Zustand. Aus Sicht der Kantone heisst es in einem Interview: «Wenn man als Mann 1.80/1.90 ist und die ganze Zeit mit eingezogenem Kopf und leicht in den Knien unterwegs ist, wenn man durch das Wohnzimmer läuft, ist das nicht so attraktiv.» Aufgrund des (damals) bestehenden Raumplanungsgesetzes mussten die Häuser jedoch aufwendig saniert werden, anstatt sie einfach abzureissen und neu zu bauen.
Die Standesinitiative war punktuell und regierungskritisch. Das Anliegen der Standesinitiative war punktuell, weil es darum ging, einen einzigen Artikel eines bestehenden Gesetzes (Raumplanungsgesetz) zu ändern. Zudem war das Anliegen regierungskritisch, weil der Kanton St. Gallen mit der Bundespolitik im Bereich der Raumplanung unzufrieden war. So schrieb die Regierung des Kantons St. Gallen: «Nachdem entsprechende Bemühungen der Ostschweizer Kantone und insbesondere des Kantons St. Gallen bisher erfolglos waren, ist die Standesinitiative das geeignete Mittel, die spezifischen Interessen beim Bund zielgerecht und wirksam einzubringen.»
Teil 2. Folglich positionierte sich die Bundesverwaltung gegen die Standesinitiative. Grundsätzlich äusserte die Bundesverwaltung in der parlamentarischen Kommission Verständnis für das Anliegen des Kantons St. Gallen, argumentierte jedoch, dass es sinnvoller sei, das Anliegen der Standesinitiative aus einer Gesamtperspektive im Rahmen einer Revision des Raumplanungsgesetzes durch den Bundesrat und die Bundesverwaltung zu behandeln. Zu Beginn argumentierte die Bundesverwaltung, sie habe bereits ein Gesetzgebungsprojekt entworfen, das die Anliegen der Standesinitiative einschliesst. Später, als sich der Plan von Bundesrat/Bundesverwaltung änderte – das Raumplanungsgesetz sollte nun in zwei Etappen revidiert werden, das Bauen ausserhalb der Bauzone sollte erst Teil einer späteren, zweiten Etappe sein –, erläuterte die Bundesverwaltung ihre Prioritäten in Bezug auf die Frage, in welchem Rahmen das Anliegen der Standesinitiative behandelt werden könnte: a) im Rahmen der zweiten Revisionsetappe des Raumplanungsgesetzes, b) als separates Gesetzgebungsprojekt unter der Federführung des Parlaments und c) in einem Gegenvorschlag zur damaligen «Landschaftsinitiative». Die Bundesverwaltung listete sodann in einem Bericht zuhanden der parlamentarischen Kommission mehrere Vorschläge – eigene und solche der parlamentarischen Kommission –, wie ein Artikel, welcher die Anliegen der Standesinitiative adressiert, formuliert sein könnte.
Teil 3. Aufgrund der Aussagen der Bundesverwaltung in der parlamentarischen Kommission und des Berichts der Bundesverwaltung zuhanden der parlamentarischen Kommission musste die parlamentarische Kommission mehrere Optionen abwägen. Erstens musste sie entscheiden, ob sie die Standesinitiative sistieren wollte, bis der Bundesrat dem Parlament einen Entwurf für eine Revision des Raumplanungsgesetzes vorgelegt hatte, oder ob sie der Standesinitiative Folge geben wollte. Zweitens musste die parlamentarische Kommission nach dem Entscheid des Bundesrates, das Bauen ausserhalb der Bauzone in einer zweiten Revisionsetappe aufzunehmen, entscheiden, ob sie der Standesinitiative Folge geben wollte oder das Anliegen der Initiative in die zweite Revisionsetappe des Raumplanungsgesetzes durch den Bundesrat aufnehmen wollte. Die parlamentarische Kommission entschied, der Standesinitiative Folge zu geben, weil es sich um ein akutes Problem in den Kantonen handle. Somit musste die parlamentarische Kommission schlussendlich über den Inhalt des Artikels entscheiden. Die zentrale Frage betraf die Voraussetzungen, unter denen ein Wiederaufbau ausserhalb der Bauzone zulässig ist.
Gesetzgebungsagenda. Schliesslich beauftragte die parlamentarische Kommission im Januar 2011 die Bundesverwaltung mit der Ausarbeitung eines Gesetzgebungsentwurfs – bzw. der Fertigstellung eines Entwurfs, weil die parlamentarische Kommission auf der Grundlage des Berichts der Bundesverwaltung bereits entschieden hatte, wie der Artikel formuliert sein soll – und mit der Erstellung eines entsprechenden Berichts für das künftige Vernehmlassungsverfahren. Mit diesem Gesetzgebungsauftrag setzte die parlamentarische Kommission das Thema auf die Gesetzgebungsagenda.
Ein Vergleich der beiden Fallstudien zeigt, dass der Entscheidungsprozess in beiden Fällen sehr ähnlich und wie in der theoretisierten Prozessdynamik beschrieben ablief. Das heisst in aller Kürze: Ein Zusammenspiel zwischen der parlamentarischen Kommission und der Bundesverwaltung führte zu einem Gesetzgebungsauftrag an die Bundesverwaltung. Meine Ergebnisse decken sich somit mit der (meist anekdotischen) Literatur, welche bereits darauf hingewiesen hat, dass die Bundesverwaltung bei der Entstehung von Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments beteiligt ist (Fontana et al. 2015, 50; Lüthi 2009, 368; Spescha et al. 2022). Jedoch komplementieren meine Ergebnisse die Literatur, indem sie zeigen, dass die Interaktion zwischen der Bundesverwaltung und dem Parlament bereits in der frühen Phase der Vorprüfung ausgeprägt ist.
Darüber hinaus bergen meine Ergebnisse Implikationen für die Debatte über die Qualität der Gesetzgebung. Denn unter einigen Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern, welche sich um die Qualität der Schweizer Gesetzgebung sorgen, ist eine Skepsis gegenüber dem Parlament im Allgemeinen (Fontana et al. 2015, 47–48; Griffel 2022) und somit auch gegenüber Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments verbreitet (Griffel 2014; Müller 2007; Müller/Uhlmann 2013, 292).
Erstens wird die weit verbreitete, negativ konnotierte These der «Instant-Gesetzgebung» hauptsächlich mit Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments in Verbindung gebracht. Das Narrativ geht wie folgt: Ein aussergewöhnlicher Vorfall ereignet sich, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier stellen den Vorfall als gesellschaftliches Problem dar und lancieren am nächsten Tag eine parlamentarische Initiative, und das Parlament winkt die Gesetzesänderung im Eiltempo durch (Fluri 2014). Zwar können gemäss den theoretischen Überlegungen und den beiden Fallstudien Gesetzgebungsprojekte unter der Federführung des Parlaments an die Hand genommen werden, weil sich die parlamentarische Kommission überlegt hat, so schneller zum Ziel zu kommen als mit Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Bundesrates. Jedoch zeigen die Fallstudien, dass die Standesinitiative und parlamentarische Initiative in einen grossen historischen Kontext eingebettet waren und von der Einreichung der Initiativen bis zum Gesetzgebungsauftrag mehrere Jahre verstrichen. In Übereinstimmung mit Lüthi (2009, 368; 2023) deuten meine Ergebnisse also daraufhin, dass Gesetzgebungsprojekte unter der Federführung des Parlaments nicht pauschal als «Instant-Gesetzgebung» zu qualifizieren sind. Auch die Tatsache, dass zahlreiche parlamentarische Initiativen und Standesinitiativen sistiert werden (Graf 2014a, 768; 2014b, 796), widerspricht der These der «Instant-Gesetzgebung».
Zweitens gibt es noch immer das Narrativ, dass das Parlament bei Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments «selbst den Gesetzesentwurf bastelt» (Griffel 2022, 70). Genauer gesagt: Das Parlament verfüge nicht über die nötige Expertise, um Gesetzgebungsaufträge zu erteilen – und geschweige denn – Gesetze eigenhändig zu entwerfen. Dies führe zu schlechten Gesetzen, welche schwer anzuwenden seien, so das Argument (Müller/Uhlmann 2013, 292–294). Autorinnen und Autoren, die in diese Richtung argumentieren, betrachten jedoch nicht das geschriebene Gesetz und dessen Umsetzung. Auch ziehen sie keine Vergleiche mit Gesetzen, die unter der Federführung des Bundesrates entstanden sind, sondern stellen nur Vermutungen über den Prozess der Entstehung von Gesetzen unter der Federführung des Parlaments an. Zwar können parlamentarische Kommissionen ein Thema und entsprechende politische Alternativen gegen den Willen des Bundesrates/der Bundesverwaltung auf die Gesetzgebungsagenda setzen – das ist trivial. Jedoch zeigen die Fallstudien zum einen, dass die parlamentarischen Kommissionen nicht unbewusst und in einer Blase entscheiden und handeln, wenn sie sich mit einer parlamentarischen Initiative oder Standesinitiative befassen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die parlamentarischen Kommissionen stützen sich auf Informationen der Bundesverwaltung und damit auf das entsprechende Fachwissen. Demnach wissen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier bspw., welche Folgen ihr Gesetzgebungsprojekt haben könnte und inwiefern es in den bestehenden Rechtsrahmen passt. Zum anderen – die bestehende Literatur hat bereits wiederholt darauf hingewiesen (Fontana et al. 2015, 50; Lüthi 2009, 369) – beauftragen parlamentarische Kommissionen gemäss meinen Fallstudien die Bundesverwaltung mit der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments die Zusammenarbeit zwischen der Bundesverwaltung und dem Parlament noch enger ist, als teilweise in der (rechtswissenschaftlichen) Literatur angenommen wird. Dementsprechend kann ich mit meinen Ergebnissen die zentralsten Annahmen jener Autorinnen und Autoren, welche behaupten, dass Gesetzgebungsprojekte unter der Federführung des Parlaments eine Gefahr für die Qualität der Bundesgesetze seien, nicht empirisch bestätigen. Mit anderen Worten: Meine Ergebnisse bringen eine gute Nachricht für die ansonsten kulturpessimistische Debatte über die Qualität der Schweizer Gesetzgebung.
In jüngster Zeit ist eine Zunahme von Bundesgesetzen unter der Federführung des Parlaments anstatt des Bundesrates zu beobachten, welche auf parlamentarischen Initiativen (und seltener) Standesinitiativen beruhen (Jaquet et al. 2019). Die Literatur wird diesem Wandel in der Schweizer Politik aber nicht gerecht und lässt weitgehend offen, wie die politischen Entscheidungsprozesse rund um solche Gesetzgebungsprojekte in der Praxis funktionieren (Burri 2007; Spescha et al. 2022). Daher untersuchte ich in diesem Beitrag den äusserst wichtigen Prozess, durch den ein Thema von der institutionellen Agenda (d.h. der Moment, in dem die politischen Entscheidungsträger einem Thema ernsthafte Aufmerksamkeit schenken) auf die engere Gesetzgebungsagenda übertragen wird (sprich, es liegt ein Gesetzgebungsauftrag zur Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs vor). Um Licht in diesen Entscheidungsprozess zu bringen, theoretisierte ich eine Prozessdynamik, welche ich anhand von zwei Fallstudien in historischen Fällen überprüfte.
Ich argumentierte, dass das Parlament die Gesetzgebungsagenda nicht unabhängig und allein festlegt, sondern dass der Gesetzgebungsagenda ein Zusammenspiel zwischen dem Parlament und der Bundesverwaltung vorangeht. Genauer gesagt: Die Bundesverwaltung ordnet das Anliegen einer Standesinitiative oder parlamentarischen Initiative in einen thematisch grösseren Zusammenhang ein und liefert verschiedene Gesetzgebungsoptionen sowie politische Alternativen. Die parlamentarische Kommission muss dann mehrere Optionen abwägen und setzt schliesslich ein Thema auf die Gesetzgebungsagenda, d.h. die parlamentarische Kommission beauftragt die Bundesverwaltung mit der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage. Dieses Argument birgt Implikationen für die Debatte über die Qualität der Gesetzgebung. Die zentralsten Annahmen jener Autorinnen und Autoren, welche Gesetzgebungsprojekte unter der Federführung des Parlaments als grösste Gefahr für die Qualität der Gesetzgebung sehen (Griffel 2014), sind auf der Grundlage meiner Ergebnisse nicht haltbar. Weder handelt es sich bei solchen Gesetzgebungsprojekten per se um «Instant-Gesetzgebung», noch kommen solche Gesetzgebungsprojekte ohne die Mitwirkung der Bundesverwaltung zu Stande.
Abschliessend müssen die Grenzen dieses Beitrags und die Generalisierbarkeit der Ergebnisse diskutiert werden. Zwar funktionierten die beiden untersuchten Entscheidungsprozesse sehr ähnlich und die postulierte Prozessdynamik liegt in mehreren Politikfeldern als auch bei einer Standesinitiative und parlamentarischen Initiative vor. Dies spricht für eine gewisse Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Jedoch geht die Stärke des gewählten methodischen Ansatzes – einige wenige Entscheidungsprozesse konnten detailliert nachgezeichnet werden – auf Kosten der Generalisierbarkeit der Ergebnisse. So untersuchte ich nur zwei Fälle, bei denen kleine Gesetzesrevisionen angestrebt wurden. Es bleibt abzuwarten, ob es bei Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments noch andere Wechselwirkungen zwischen Bundesverwaltung und Parlament gibt, die ein Thema auf die Gesetzgebungsagenda transferieren, und welche Konsequenzen andere Wechselwirkungen für den Inhalt eines Gesetzgebungsauftrages haben.
Ich lade Autorinnen und Autoren aus der Wissenschaft und Praxis dazu ein, folgende Anknüpfungspunkte ins Auge zu fassen. Erstens sind weitere Fallstudien erforderlich, um die Ergebnisse in einer grösseren Zahl von Fällen zu bestätigen. Zweitens sollten künftige Studien über den Entstehungsprozess von Gesetzen hinausgehen und das Produkt des Entscheidungsprozesses, das Gesetz, und dessen tatsächliche Auswirkungen berücksichtigen.
Raphael Capaul, MA: Doktorand in Politikwissenschaft, Universität Zürich. E-Mail: raphael.capaul@rwi.uzh.ch.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts «Faktoren guter Rechtsetzung» entstanden, welches die Stiftung für Schweizerische Rechtspflege finanzierte. Eine frühere Version dieses Beitrags präsentierte ich an der «Summer School in Democracy Studies» 2022 in Zürich.
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- 1 Das formale Verfahren ist bei parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen in der Phase der Vorprüfung weitaus identisch. Unter gewissen Umständen kann es jedoch leichte Unterschiede im Verfahren geben, da sich eine Standesinitiative an beide Räte richtet und eine parlamentarische Initiative nicht (Graf 2014b, 796).
- 2 Das will nicht heissen, dass es sich bei Gesetzgebungsprojekten unter der Federführung des Parlaments niemals um umfangreiche Gesetzesänderungen bzw. neue Gesetze handelt (Lüthi 2023, 1).
- 3 Der Bundesrat aktivierte den Status S erstmalig im März 2022 für Personen aus der Ukraine (Capaul 2022).