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Während der Initiierung von Gesetzgebungsverfahren, d.h. in den Prozessen bis und mit formalem Gesetzgebungsauftrag zur Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs, werden die zentralen Weichen für ein Gesetzgebungsprojekt gestellt (Sciarini 2023, 432). Erstaunlicherweise kümmert sich die Rechtsetzungslehre aber kaum um die Initiierung von Gesetzgebungsverfahren. Die Rechtsetzungslehre ist sich zwar bewusst, dass von «irgendwo» ein Impuls für ein Gesetzgebungsprojekt kommen muss. Jedoch untersucht die Rechtsetzungslehre die Initiierung nicht empirisch und behandelt die Initiierung nur kursorisch, weil in dieser Frühphase die Fragen der Rechtsetzungstechnik und -methodik eine untergeordnete Rolle spielen (Flückiger 2019; Müller et al. 2024; Wyss 2016). Für die rechtswissenschaftliche Literatur sind v.a. die Gesetzgebungsverfahren ab dem formalen Gesetzgebungsauftrag von Interesse. Auf der Grundlage eines solchen Auftrages können Juristinnen und Juristen Normkonzepte und Gesetzestexte entwerfen (Müller et al. 2024, 269–270).
Wie werden in der Schweizer Politik Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene initiiert? Grundsätzlich gibt es verschiedene Instrumente, mit denen Impulse für Gesetzgebungsprojekte gesetzt werden können. Z.B. kann eine vom Stimmvolk angenommene Volksinitiative einen Gesetzgebungsauftrag des Bundesrates an die Verwaltung zur Ausarbeitung einer Ausführungsgesetzgebung zur Folge haben (Caroni/Vatter 2016). Gemäss Jaquet et al. (2019) sind rund zehn Prozent der Entscheidungsprozesse auf Bundesebene – die Statistik umfasst politische Geschäfte, welche dem Votum des Volkes unterstehen – dem Initiator «Volk» zuzuordnen. Oder eine Mehrheit einer parlamentarischen Kommission kann einer Standesinitiative oder parlamentarischen Initiative Folge geben und die Verwaltung mit der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage beauftragen (Capaul 2023; Lüthi 2009; Pfister 2009). Laut der Statistik von Jaquet et al. (2019) sind rund ein Prozent der Entscheidungsprozesse auf Bundesebene der Kategorie «Kantone» (Standesinitiative) und rund 13 Prozent der Kategorie «parlamentarische Initiative» zuzuordnen. Zudem fallen gemäss der genannten Statistik rund 14 Prozent der Entscheidungsprozesse in die Kategorie «Motion». Die Mehrheit der vom Parlament verabschiedeten Gesetzesvorlagen sind aber Gesetzesvorlagen, welche gemäss gängiger Statistiken der Kategorie «Bundesrat und Verwaltung» zuzuordnen sind und somit massgeblich von der Verwaltung initiiert werden (Burri 2007; Jaquet et al. 2019; Utz 2005). Gemäss Jaquet et al. (2019) fallen rund 50 Prozent der Entscheidungsprozesse auf Bundesebene in diese Kategorie. Zudem hat die Literatur darauf hingewiesen, dass bei jenen Gesetzgebungsprojekten, welche im weitesten Sinne der Kategorie «internationale Akteure» zuzuordnen sind, ebenfalls die Verwaltung eine zentrale Rolle in der Initiierung hat (Jaquet et al. 2019). Laut Jaquet et al. (2019) ist die Initiierung von rund 13 Prozent der Entscheidungsprozesse auf Bundesebene auf internationale Akteure zurückzuführen.
Ein weit verbreitetes Narrativ der Rechtsetzungslehre betreffend Gesetzgebungsprojekten aus der Verwaltung lautet: Die Verwaltung sei bemüht, «gute» Gesetzesentwürfe auszuarbeiten (Müller et al. 2024, 41). Gesetzesentwürfe werden von der Verwaltung «keimfrei» (Graf 2007, 11) erstellt, d.h. «frei von politischen Störenfrieden» (Lüthi 2009, 370). Danach folge «die Politik», insb. das Parlament, welche die Qualität der Gesetzgebung zerstöre (Fontana et al. 2015; Griffel 2014).
Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist dieses Narrativ merkwürdig. Erstens gilt es in der Politikwissenschaft als allgemein anerkannt, dass die Verwaltung eine politische Akteurin mit Eigeninteressen ist, welche jegliche Politikphasen beeinflusst – auch die Initiierung (Linder 2012, 257, 335). Zweitens geht die politikwissenschaftliche Agenda-Setting-Literatur davon aus, dass in politischen Entscheidungsprozessen zwischen verschiedenen politischen Akteuren ausgehandelt wird, welche Themen und Handlungsalternativen (Lösungen) in Gesetzgebungsverfahren kanalisiert werden (Baumgartner/Jones 2009; Kingdon 2014). Das heisst, in der Regel liegt eine Pluralität von Impulsen für ein Gesetzgebungsprojekt vor. Neben Impulsen aus der Verwaltung kann es auch Impulse von anderen politischen Akteuren (Interessensgruppen etc.) geben (Capaul 2024a; Capaul 2024b). Dementsprechend untersuche ich in diesem Beitrag folgende Fragestellungen: Inwieweit berücksichtigt die Verwaltung in der Initiierung von Gesetzgebungsprojekten die Politik? Und welche Entscheidungsprozesse zwischen der Verwaltung und politischen Akteuren prägen die Initiierung von Gesetzgebungsprojekten? Diese Fragestellung wird mit Blick auf jene Gesetzgebungsprojekte beantwortet, bei denen der Bundesrat den formalen Gesetzgebungsauftrag erteilt und es sich nicht um die Umsetzung einer Motion oder einer Volksinitiative handelt.
Für die Beantwortung der Fragestellungen war ein «Process-Tracing-Design» optimal geeignet, weil damit Prozesse zwischen verschiedenen politischen Akteuren rekonstruiert und erklärt werden können (Beach/Pedersen 2019). Ein solches Design besteht aus zwei Komponenten. Erstens theoretisierte ich eine Prozessdynamik (ich nenne sie Mechanismus der strategischen Präemption), welche einen erwarteten Entscheidungsprozess in seine zentralsten Teile zerlegt. Diese Prozessdynamik entwickelte ich angelehnt an die politikwissenschaftliche Literatur zur Schweizer Politik selbst. Zweitens überprüfte ich die postulierte Prozessdynamik mit qualitativen Fallstudien, in welchen ich testete, ob die einzelnen Teile der theoretischen Prozessdynamik in empirischen Fällen vorliegen. Dazu verwendete ich Daten wie Interviews mit direktbeteiligten Personen und Dokumente (z.B. Berichte von der Verwaltung).
Auf der Grundlage dieses Forschungsdesigns argumentiere ich, dass die Initiierung aus politischen Entscheidungsprozessen besteht und die Verwaltung dabei strategische Kompromisse mit den relevanten politischen Akteuren eines Politikfelds eingeht (z.B. Kantone im Raumplanungsbereich oder Finanzbranche im Finanzmarktbereich), um künftige Vetopunkte (u.a. Parlament) zu antizipieren und die Funktionalität der künftigen Gesetzgebung sicherzustellen (z.B. Praktikabilität). Zum einen sind für die Verwaltung Gesetzgebungsprojekte politisch vorgespurt, wenn eine vorangehende Gesetzesvorlage Schiffbruch erleidet, etwa in einer Vernehmlassung (siehe Fallstudie 1) oder in der Eintretensdebatte in einer parlamentarischen Kommission (Fallstudie 2). Das heisst, die Initiierung eines Gesetzgebungsprojekts kann mit Entscheidungsprozessen, welche lange nach einem formalen Gesetzgebungsauftrag des Bundesrates zu einem Vorgängerprojekt stattgefunden haben, verwoben sein. Z.B. führte bei Fallstudie 2 die Eintretensdebatte beim Gesetzgebungsprojekt A zu einem Gesetzgebungsauftrag des Bundesrates für ein Gesetzgebungsprojekt B. Offensichtlich ist die Initiierung von Gesetzgebungsprojekten also weniger linear und geordnet als es in den Lehrbüchern der Rechtsetzungslehre dargestellt wird. Zum anderen finden auch bei jenen Gesetzgebungsprojekten, welche einem formaleren Verständnis des Gesetzgebungsverfahrens entsprechen (Fallstudie 3, 4 und 5), politische Entscheidungsprozesse zwischen der Verwaltung und anderen politischen Akteuren in der Initiierung statt. Bspw. publizierte die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) bei Fallstudie 3 einen Bericht und führte eine Anhörung mit interessierten Kreisen durch, bevor die Zentralverwaltung einen Gesetzgebungsauftrag des Bundesrates ersuchte.
Mit meinen Ergebnissen liefere ich zwei Beiträge für die (rechtswissenschaftliche) Literatur. Erstens fokussiert der Beitrag im Vergleich zur rechtswissenschaftlichen Literatur auf die politischen Prozesse vor dem formalen Gesetzgebungsverfahren. Präziser gesagt, zeigt der Beitrag auf, dass ein formaler Gesetzgebungsauftrag des Bundesrates an die Verwaltung ein lange umkämpfter Zwischenschritt in der Genese eines Gesetzgebungsprojekts ist – und nicht erst der Beginn eines formalen Gesetzgebungsverfahrens. Zweitens liefert der Beitrag eine neue Perspektive für die Debatte über die Qualität der Gesetzgebung. Konkreter nimmt der Beitrag eine Initiierungsperspektive ein. Demgegenüber fokussiert die Debatte über die Qualität der Gesetzgebung auf die Erstellung von Gesetzestexten (nach der Initiierung) sowie auf die parlamentarische Phase nach der Verabschiedung der Botschaft des Bundesrates (Griffel 2014; Müller et al. 2024). Zudem werden gemäss den Ergebnissen dieses Beitrages bereits in der Initiierung von Gesetzgebungsprojekten zentrale Fragen wie die Notwendigkeit, Praktikabilität oder Adäquanz eines Projekts diskutiert – allesamt wichtige Kriterien für eine «gute» Gesetzgebung gemäss der wissenschaftlichen Literatur (Mader/Rütsche 2004, 138 ff.). Die Ergebnisse dieses Beitrages deuten also tendenziell darauf hin, dass man bzgl. der Qualität der Gesetzgebung weniger pessimistisch sein kann als es eine Mehrheit der Literatur mit anekdotischen Einzelbeispielen zu angeblich «schlecht» geschriebenen Gesetzen suggeriert (Griffel 2014; Griffel 2023; Fontana et al. 2015).
Der Rest dieses Beitrages stellt mein Argument genauer vor und folgt dabei folgender Struktur: Im nächsten Kapitel theoretisiere ich eine Prozessdynamik (Mechanismus der strategischen Präemption; siehe Abbildung 1 für eine Übersicht). Nachdem ich meine empirische Vorgehensweise genauer vorgestellt habe, überprüfe ich die theoretisierte Prozessdynamik mit fünf empirischen Fallstudien. Basierend darauf folgt die Diskussion, d.h. die Einbettung der Ergebnisse in die Literatur, und der Schluss.
Ursache. Die Grundvoraussetzung für ein allfälliges Gesetzgebungsverfahren ist, dass Themen Aufmerksamkeit erhalten. Die Themen, denen die politischen Entscheidungsträger (Bundesrat und Parlament) auf Bundesebene und ihre engen Kreise (etwa die Verwaltung) ernsthafte Aufmerksamkeit widmen, formen zusammen die sog. institutionelle Agenda (Cobb/Elder 1971, 906). Ein Beispiel für ein Thema, welches auf der institutionellen Agenda liegt: Das Parlament debattiert zu einem gewissen Thema (z.B. Bauen ausserhalb der Bauzone im Raumplanungsbereich), ebenso werden im Parlament parlamentarische Vorstösse eingereicht, die Verwaltung setzt sich mit dem Thema auseinander und der Bundesrat beobachtet die Arbeiten der Verwaltung sowie die Debatten im Parlament.
Teil 1. Unter Umständen möchte die Verwaltung bzgl. eines Themas, welches auf der institutionellen Agenda liegt, ein Gesetzgebungsprojekt lancieren. Die Verwaltung befindet sich aufgrund ihrer umfänglichen Ressourcen, u.a. Informationen und Expertise, in «einer asymmetrisch bevorzugten Stellung im Vergleich zu den politischen Entscheidungsträgern» (Varone 2013, 109). Deshalb hat die Verwaltung eine zentrale Rolle in der Initiierung und Genese von Gesetzgebungsprojekten (Linder 2012, 257). Da die Verwaltung bei der Genese eines Gesetzgebungsprojektes auf die Mithilfe anderer politischer Akteure angewiesen ist, legt die Verwaltung früher oder später die Stossrichtung eines (zukünftigen) Gesetzgebungsprojektes offen.
Was ist die Motivation der Verwaltung, ihre Ideen und Pläne für Gesetzgebungsprojekte offenzulegen? Zum einen kann die Verwaltung beabsichtigen, die Kritik der relevanten politischen Akteure eines Politikfelds einzufangen. D.h., die Verwaltung möchte u.U. eine Resonanz zu ihren Vorhaben erhalten, um eine Vorstellung davon zu haben, wie ein Gesetzgebungsprojekt (neu) ausgerichtet werden könnte, damit man es vor dem Bundesrat gut begründen kann und damit es im künftigen Gesetzgebungsverfahren eine Chance hat. Metaphorisch formuliert: Die Verwaltung startet einen Versuchsballon und schaut, wer auf den Ballon schiesst. Zum anderen kann die Verwaltung auch Stossrichtungen von Gesetzgebungsprojekten vorschlagen, ohne dass Kritik an den Vorschlägen «erwünscht» ist. Z.B. könnte die Verwaltung bereits einen Gesetzesentwurf erarbeitet haben, mit dem sie zufrieden ist, und die Verabschiedung der Gesetzesvorlage durch das Parlament zum Ziel haben.
Teil 2. Nachdem die Verwaltung die Stossrichtung eines (künftigen) Gesetzgebungsprojekts vorgeschlagen hat, folgt logischerweise die Kritik politischer Akteure an den Vorhaben der Verwaltung. Die relevanten politischen Akteure eines Politikfelds (z.B. die Kantone in der Raumplanung) kommen nun zum Zug und versuchen, die Gesetzgebungsprojekte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Kritikpunkte können z.B. die Notwendigkeit des Projekts oder die Praktikabilität in der Praxis betreffen.
Teil 3. Konsequenterweise sieht sich die Verwaltung mit einer erheblichen Kritik zu ihren Vorhaben konfrontiert. Die Prozessdynamik wird nun insb. in dem hier besprochenen dritten Teil interessant. Nämlich kommt die Verwaltung wieder zum Zug und richtet ihre Vorhaben für (künftige) Gesetzgebungsprojekte neu aus. Das bedeutet, die Verwaltung ändert ihre ursprünglichen Vorschläge ab und gesteht den relevanten politischen Akteuren Konzessionen zu.
Was ist die Motivation der Verwaltung, ihre Vorhaben abzuändern? Erstens versucht die Verwaltung, strategisch künftige Vetopunkte zu antizipieren. Die zwei zentralsten Vetopunkte für ein Gesetzgebungsprojekt der Verwaltung sind das Parlament und das fakultative Referendum. Aufgrund der Ausgestaltung des politischen Systems der Schweiz kann ein Gesetzgebungsprojekt nur auf der Grundlage von relativ breitem Konsens verabschiedet werden und in Kraft treten. D.h., die Verwaltung ist bemüht, Schiffbruch im späteren Gesetzgebungsverfahren zu vermeiden. Zweitens, komplementär zur Antizipation von Vetopunkten, strebt die Verwaltung auch eine potenziell funktionierende Gesetzgebung an (d.h. insb. eine praktikable Gesetzgebung, welche umsetzbar ist, und eine adäquate Gesetzgebung, welche ihre Ziele erreicht). Das bedeutet, die Verwaltung ändert auf der Grundlage der Kritik zentraler politischer Akteure ihre Projekte auch mit Blick auf die Funktionalität der künftigen Gesetzgebung ab. Vielleicht wurde die Praktikabilität der Vorhaben der Verwaltung kritisiert, worauf die Verwaltung ihr Vorhaben mit Blick auf die Umsetzung in der Praxis neu ausrichtet.
Outcome. Schlussendlich kommt ein Thema und gewisse Handlungsalternativen auf der vorparlamentarischen Gesetzgebungsagenda zu liegen. Das bedeutet, dass der Bundesrat einen Gesetzgebungsauftrag an die Verwaltung zur Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs erteilt. In anderen Worten: Ein Gesetzgebungsverfahren wurde initiiert. Die logische Konsequenz des Mechanismus der strategischen Präemption ist, dass der Gesetzgebungsauftrag nicht den ursprünglichen Vorschlägen der Verwaltung für ein Gesetzgebungsprojekt entspricht.
Um die oben postulierte Prozessdynamik (Mechanismus der strategischen Präemption) zu überprüfen, führte ich Prozessverfolgungs-Fallstudien durch (Beach/Pedersen 2019). Mit den Prozessverfolgungs-Fallstudien überprüfte ich, ob die einzelnen Teile der theoretisierten Prozessdynamik in historischen Fällen vorliegen.
Ein Fall ist definiert als Sequenz, welche ein Thema von der institutionellen Agenda auf die vorparlamentarische Gesetzgebungsagenda transferiert. Damit ich Entscheidungsprozesse im Detail rekonstruieren konnte und trotzdem fallübergreifende Aussagen treffen konnte, führte ich fünf Fallstudien durch. Aus forschungspraktischen Gründen (Datenerhebung, insb. Interviews) beschränkte ich mich bei der Fallauswahl auf Gesetzgebungsprojekte, welche das Parlament in der rund letzten Dekade beriet. Um möglichst übergreifende Aussagen treffen zu können, folgte ich innerhalb dieses Kontexts einer diversitätsorientierten Logik und berücksichtigte folgende Kriterien. Erstens sollen verschiedene Arten von Gesetzgebungsprojekten, d.h. gesetzgeberische Grossprojekte/kleine Projekte und neue Gesetze/Revisionen bestehender Gesetze berücksichtigt werden. Zweitens sollen verschiedene Typen von Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden: internationalisiert/europäisiert, innenpolitisch und föderalistisch (Sciarini et al. 2015). Deshalb wählte ich Fälle innerhalb von drei verschiedenen Politikfeldern aus: Raumplanung (primär föderalistisch), Finanzmarkt (primär internationalisiert/europäisiert) und Migration (primär innenpolitisch).
Eine wichtige Komponente von Prozessverfolgungs-Fallstudien ist, sich zu überlegen, welche «empirischen Fussabdrücke» die Aktivitäten der in dem theoretisierten Prozess beteiligten Akteure in den Fällen hinterlassen haben könnten (Beach/Pedersen 2019). In anderen Worten: Es muss überlegt werden, welche Evidenz gefunden werden muss, damit die postulierte Prozessdynamik bestätigt werden kann. Bspw. wären «Geständnisse» von Personen aus der Verwaltung, dass sie ihre für gut empfundene Stossrichtung eines Gesetzgebungsprojekts abänderten, ein empirischer Fussabdruck für den dritten Teil des Mechanismus der strategischen Präemption (siehe Abbildung 1 für die empirischen Fussabdrücke aller Teile der Prozessdynamik).
Um die «empirischen Fussabdrücke» zu finden, sammelte ich verschiedene Arten von Daten und verglich diese miteinander. Erstens führte ich pro Fall drei bis acht Interviews mit im Entscheidungsprozess direkt beteiligten Personen durch, u.a. mit Personen aus der Verwaltung. Um Kontakt zu relevanten direkt beteiligten Personen herzustellen, ging ich schneeballartig vor. Die Interviews, welche allesamt transkribiert wurden, führte ich zwischen November 2021 und Juni 2022 durch. Zweitens sammelte und analysierte ich diverse Dokumente. Von einem Grundkorpus bestehend aus der Botschaft des Bundesrates, dem Bericht zu den Vernehmlassungsergebnissen und dem erläuternden Bericht zu Vernehmlassungsvorlage, stiess ich dann schneeballartig auf weitere Dokumente wie z.B. Diskussionspapiere/Berichte von Bundesrat/Verwaltung oder Medienmitteilungen. Drittens zog ich Medienberichte und Sekundärliteratur herbei.
Ursache. «Der Asylbereich steht immer wieder vor neuen Herausforderungen», heisst es in einer Botschaft des Bundesrates. Etwa traf die damalige Schweizerische Asylrekurskommission Ende 2005 einen Grundsatzentscheid, wonach Personen aus Eritrea bei Dienstverweigerung und Desertion in der Schweiz Asyl erhalten. Anschliessend kam es zu einem deutlichen Anstieg an Asylgesuchen in der Schweiz von Personen aus Eritrea. Diese Umstände beschäftigten die politischen Entscheidungsträger. Bspw. schrieb der Bundesrat in einer Antwort zu einer Interpellation aus dem Parlament: «Der Bundesrat wird die weitere Entwicklung genau beobachten und allenfalls prüfen, ob eine Gesetzesrevision notwendig ist.»
Teil 1. Im Mai 2010 unterbreitete der Bundesrat dem Parlament eine Revision des Asylgesetzes und eine entsprechende Botschaft. Die Motivation hinter der Gesetzesvorlage war in den Worten des Bundesrates, «die Verfahrensabläufe zu beschleunigen und effizienter auszugestalten». Dabei handelte es sich um eine eher kleine Revision. Man wollte z.B. gewisse Fristen bei den Verfahren ändern.
Teil 2. Die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S), die erstberatende parlamentarische Kommission, beriet die Vorlage des Bundesrates zwischen Juni und November 2010. Dabei begrüsste die SPK-S das Ziel der Vorlage. Gleichzeitig hatte die SPK-S die Befürchtung, dass die gemäss der SPK-S vorherrschenden Probleme im Asylbereich, insb. die lange Verfahrensdauer, nicht gelöst werden. Exemplarisch heisst es in einem Interview mit einer Person aus dem Kommissionssekretariat: «Jetzt haben wir wieder so eine Klein-Klein-Revision. Wir können nicht mehr so weiterfahren. (…). Man war an einem Punkt, man wusste, wir können nicht die gefühlt 15. Teilrevision des Asylgesetzes machen, sondern jetzt müssen wir einen grossen Wurf machen.» Aufgrund dessen trat die SPK-S auf die Vorlage des Bundesrates ein, beauftragte aber das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), bis Ende März 2011 einen ergänzenden Bericht vorzulegen. In diesem Bericht soll das EJPD die grundlegenden Probleme im Asylbereich aufzeigen und weitergehende Handlungsoptionen skizzieren.
Teil 3. Im März 2011 legte das EJPD schliesslich den sog. «Beschleunigungsbericht 2011» vor. Gemäss dem Bericht bestand im Asylwesen tatsächlich eine Problemlage. So heisst es bspw.: «Der Bericht bestätigt die These, wonach das grundsätzliche Problem im Asylbereich bei der durchschnittlich zu langen Dauer zwischen der Einreise und der Asylgewährung, einer vorläufigen Aufnahme oder dem Vollzug der Wegweisung bei ablehnendem Entscheid liegt.» Sodann schlug das EJPD verschiedene Handlungsoptionen im «Beschleunigungsbericht 2011» vor. Die vom EJPD präferierte Option war die Neustrukturierung des Asylbereichs durch die Schaffung von Verfahrenszentren des Bundes. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Asylverfahren rasch in Bundeszentren durchgeführt werden soll. Die SPK-S sprach sich schliesslich zu Gunsten dieser vom EJPD vorgeschlagenen Neustrukturierung aus.
Outcome. Am 6. Juni 2011 erfolgte der Gesetzgebungsauftrag des Bundesrates an die Verwaltung. Der Bundesrat beauftragte das EJPD, «die finanziellen, organisatorischen, rechtlichen und politischen Konsequenzen der Neustrukturierung des Asylbereichs vertieft zu überprüfen», wie es in der entsprechenden Medienmitteilung des Bundesrates heisst.
Ursache. Das Raumplanungsgesetz (RPG), welches 1980 in Kraft getreten ist, vermochte Probleme wie Zersiedelung und Kulturlandverlust nicht zu lösen. Das Thema der Revision des RPG erhält demnach wiederholt politische Aufmerksamkeit, so geschehen auch einige Jahre nach der Jahrhundertwende. Zum einen veröffentlichte das Amt für Raumentwicklung (ARE) im Frühjahr 2005 den «Raumentwicklungsbericht 2005». Gemäss dem ARE wird der Bericht «mehr oder weniger grosse Gesetzesänderungen nach sich ziehen, insb. im Raumplanungsgesetz». Zum anderen erhielt der «Fall Galmiz», wobei es um die Umzonung von Landwirtschaftszone für einen neuen Industriestandort für ein US-Pharmaunternehmen im Kanton Freiburg ging, ab Ende 2004 mediale und politische Aufmerksamkeit.
Teil 1. Ende 2008 gab der Bundesrat ein gesetzgeberisches Grossprojekt, welches verwaltungsintern erarbeitet wurde, in die Vernehmlassung. Aufgrund der damaligen Landschaftsinitiative wurde die Vorlage als thematisch breit angelegter indirekter Gegenvorschlag in die Vernehmlassung gegeben. Zur Vernehmlassungsvorlage heisst es von einer direktbeteiligten Person aus der Verwaltung:
Also wir haben das ja vor allem intern vorbereitet. (…). Aus diesen Überlegungen wollten wir das RPG eigentlich totalrevidieren: neue Herausforderungen, Schwachstellen eines 25-jährigen Gesetzes. (…). Hier hat man wirklich mal eine aktive Gesetzgebung gemacht. Und wir selber aus der Überzeugung heraus, dass das RPG insgesamt überprüfungswürdig ist, haben eigentlich versucht, diesen grösseren Wurf zu machen.
Teil 2. Zwar begrüsste die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer die Idee einer Revision des RPG. Jedoch ging die Vorlage den meisten Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmern, u.a. den Kantonen, zu weit. Zudem kritisierten die Kantone ihren fehlenden Einbezug in das Gesetzgebungsprojekt. Bspw. heisst es in einem Interview mit einer Person aus der Bau-, Planungs- und Umweltdirektorenkonferenz (BPUK): «Die Kantone haben sich dann natürlich auf den Art. 75 BV [Raumplanung] abgestützt und gesagt: Hört mal zu, so geht das nicht, das müsst ihr schon mit uns machen.»
Teil 3. Die Verwaltung (ARE) zog zwei Lehren aus der Vernehmlassung. Erstens soll auf eine Gesamtüberarbeitung des RPG verzichtet werden. Zweitens sollen die Kantone für das Gesetzgebungsprojekt vermehrt einbezogen werden. In einem Interview mit einer direktbeteiligten Person aus der Verwaltung heisst es exemplarisch:
Es ist aber in der Vernehmlassung dann auf eine sehr negative Rezeption gestossen. Wir haben dann auch festgestellt, dass der Prozess der Erarbeitung sehr schwierig war. Raumplanung ist natürlich von der Verfassung her primär eine Domäne der Kantone. Wir haben dies damals wirklich intern erarbeitet und die Kantone waren relativ wenig involviert. Wenn sich die Kantone nicht mitgenommen fühlen, baut sich sofort eine gewisse Opposition auf. Das ist uns ein wenig um die Ohren geflogen. Von daher haben wir dann eigentlich gesehen, auch mit Blick auf das RPG I [erste Revisionsetappe des RPG] nachher, man muss die Kantone einfach von Anfang an versuchen mitzunehmen, soweit das möglich ist.
Outcome. Der Bundesrat erteilte am 15. Mai 2009 dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) einen Gesetzgebungsauftrag. In der entsprechenden Medienmitteilung heisst es: «Im Vordergrund steht nun eine Teilrevision des RPG, als indirekter Gegenvorschlag zur Landschaftsinitiative. Dazu wollen der Bund und die Kantone in Form einer Arbeitsgruppe, welche vor den Sommerferien zum ersten Mal tagt, eng zusammenarbeiten.»
4.3. Fallstudie 3: «Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) und Finanzinstitutsgesetz (FINIG)» (15.073)
Ursache. Seit dem Beginn der 1990er Jahre war die Regulierung von Vermögensverwaltern in der Schweiz immer wieder ein Thema. Konkret leistete eine Expertenkommission im Jahre 1991 Anschub. In den darauffolgenden Jahren flackerte das Thema immer wieder auf und weitere Expertenkommissionen beschäftigten sich damit. Jedoch erhielt das Thema erst im Zuge der Finanzkrise 2007–2009 entscheidend Auftrieb. Der Nachgang der Finanzkrise setzte internationale und nationale Bestrebungen in Gange, den Kundenschutz zu verstärken und zu vereinheitlichen. Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA), welche 2009 ihre Tätigkeit aufnahm, schreibt bspw. in ihrem Bericht «Madoff & Lehmann 2010»: «Aufgrund der Untersuchungsergebnisse [zur Finanzkrise] ist die FINMA überzeugt, dass der Schutz der Anleger im geltenden Recht nicht ausreichend ist und ein regulatorischer Handlungsbedarf besteht.»
Teil 1. Im November 2010 publizierte die FINMA den «Vertriebsbericht 2010», womit sie eine Diskussion rund um mögliche Handlungsoptionen zur Verbesserung des Kundenschutzes sowie Massnahmen für deren Umsetzung lancierte. Bspw. schlug die FINMA verbesserte Dokumentationspflichten am «Point of Sale» als Handlungsoption vor. Langfristig gesehen soll ein neues Finanzdienstleistungsgesetz geschaffen werden. Zudem skizzierte die FINMA erste Kerninhalte eines solchen Gesetzes, bspw. die Erstellung eines Risikoprofils der Kundinnen und Kunden. Die FINMA schrieb, dass sie sich «eine möglichst breite Teilnahme» an der Diskussion um den «Vertriebsbericht 2010» wünschte.
Teil 2. In einer öffentlichen Anhörung zum «Vertriebsbericht 2010» der FINMA nahmen die relevanten Anspruchsgruppen (z.B. Interessens- und Fachverbände der Branche) Stellung. Eine Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Anhörung begrüsste im Grundsatz die Schaffung eines neuen Finanzdienstleistungsgesetzes. Jedoch stiessen gewisse Vorschläge der FINMA zu einer möglichen Ausgestaltung eines Finanzdienstleistungsgesetzes und anderweitige Handlungsvorschläge, z.B. die Einführung von Sammelklagen, in der Anhörung durchaus auf Vorbehalte. In den Worten einer direktbeteiligten Person aus der FINMA: «Es ist sicher nicht nur auf Begeisterung gestossen, im Detail sowieso nicht. Gerade aus Sicht eines Vermögensverwalters ist das Thema Beaufsichtigung damals auf grossen Widerstand gestossen.»
Teil 3. Auf der Grundlage der in der Anhörung zum «Vertriebsbericht 2010» geäusserten Kritik veröffentlichte die FINMA im Februar 2012 das «Positionspapier Vertriebsregeln 2010», welches ein Finanzdienstleistungsgesetz und erste Eckpfeiler eines solchen Gesetzes vorschlägt. Die FINMA verwarf einige Ideen, welche noch im «Vertriebsbericht 2010» enthalten waren. In einem Interview mit einer direktbeteiligten Person aus der FINMA heisst es exemplarisch: «Viele Punkte wurden nicht weiterverfolgt, inklusive der Möglichkeit der Sammelklage. (…). Man hatte sich also in vielen Sachen angepasst. Wenn man schaut, der Bericht von 2012 sieht schon erheblich anders aus als derjenige von 2010.» Gemäss der FINMA war das «Positionspapier Vertriebsregeln 2012» der Abschluss ihrer Vorarbeiten für ein Finanzdienstleistungsgesetz. Die FINMA wünschte sich nun einen Gesetzgebungsauftrag an die (zentrale) Verwaltung.
Outcome. Am 28. März 2012 erteilte der Bundesrat einen Gesetzgebungsauftrag. In der entsprechenden Medienmitteilung heisst es: «Der Bundesrat hat an seiner heutigen Sitzung das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) beauftragt, die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zur Verbesserung des Kundenschutzes beim Vertrieb von Finanzprodukten zu erarbeiten.»
Ursache. Revisionen des Geldwäschereigesetzes (GwG) sind ein Thema, welches die politischen Entscheidungsträger oft beschäftigt. Rund ein Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende bekam etwa das sog. Weissgeld Aufmerksamkeit, d.h. (un)versteuerte Gelder bzw. die Verhinderung der Annahme unversteuerter Gelder. Z.B. schrieb der Bundesrat in seiner Finanzmarktstrategie vom Dezember 2009, «es sei nicht im Interesse der Schweiz, unversteuertes Geld aus dem Ausland anzuziehen». International gab es neue Empfehlungen der Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) und Diskussionen um einen internationalen automatischen Informationsaustausch (AIA). Und national gab es «Druck aus linken Kreisen», wie es z.B. in einem Interview mit einer Person aus der Verwaltung heisst.
Teil 1. Der Bundesrat veröffentlichte Ende Februar 2012 das Diskussionspapier «Strategie für einen steuerlich konformen und wettbewerbsfähigen Finanzplatz» (nachfolgend nur «Diskussionspapier 2012»; gemäss Interviews ist dessen Inhalt auf die Verwaltung zurückzuführen). Im «Diskussionspapier 2012» wurden erweiterte Sorgfaltspflichten für Banken betreffend unversteuerter Gelder, einschliesslich einer «Verpflichtung zu Einholung der Selbstdeklaration über die Steuerkonformität», vorgeschlagen.
Teil 2. Abgesehen von der politischen Linken stiess das «Diskussionspapier 2012» auf Vorbehalte und Ablehnung. So kritisierte auch die Finanzbranche den Inhalt des «Diskussionspapiers 2012», im Besonderen die vorgeschlagene Selbstdeklarationspflicht für im Ausland wohnhafte Kunden über die Versteuerung ihrer Gelder. Diese Handlungsalternative sei nicht praktikabel. Exemplarisch kann folgender Ausschnitt aus einem Zeitungsinterview mit Oswald Grübel, ehemaliger Chef von UBS und CS, aufgeführt werden:
Diese Weissgeldstrategie ist unbrauchbar. Die Konsequenzen scheinen nicht allen klar zu sein. Wir wollen kein Schwarzgeld mehr in der Schweiz, wir wollen die Banken stärker in die Pflicht nehmen. Nur: Ist das überhaupt umsetzbar? Wenn man die Banken etwa für die Selbstdeklaration der Kunden verantwortlich machen will, dann werden die sagen: Entschuldigung, aber diese Verantwortung können wir nicht übernehmen. Der administrative Aufwand für die Banken ist viel zu hoch. Glauben Sie, der Kunde hat einen Stempel auf der Stirn, der zeigt, ob er Steuern bezahlt?
Im November 2012 stellte die Schweizerische Bankiervereinigung (SBVg) dem Bundesrat ein internes Strategiepapier zu, welches die Verwaltung prüfte. In diesem Papier schlug die SBVg vor, die systematische Selbstdeklaration nicht weiterzuverfolgen und auf Alternativen zu setzen (sog. verhaltens- und risikobasierter Ansatz).
Teil 3. Vor dem Hintergrund dieser Kritik richtete die Verwaltung das Projekt neu aus: Zwar sollen Banken eine Selbstdeklaration betreffend Erfüllung der Steuerpflicht verlangen können, aber eine Selbstdeklarationspflicht soll es nicht geben. Z.B. heisst es in einem Bericht des Bundesrates vom Dezember 2012:
Eine Pflicht zur Einholung einer Selbstdeklaration wäre hingegen nur dann glaubwürdig und damit wirkungsvoll, wenn sie mit einer umfassenden Überprüfungspflicht der Finanzintermediäre und einer entsprechenden Kontrolle durch die Aufsichtsbehörde ergänzt würde. Weder die Finanzintermediäre noch die Aufsichtsbehörde verfügen jedoch über die Möglichkeiten, solche Abklärungen mit der notwendigen Tiefe vorzunehmen.
Outcome. Schliesslich erteilte der Bundesrat am 14. Dezember 2012 der Verwaltung einen Gesetzgebungsauftrag. Gemäss der entsprechenden Medienmitteilung wurde das EFD «beauftragt, anfangs 2013 eine entsprechende Vernehmlassungsvorlage vorzulegen.»
Ursache. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise legten die G20 mit ihrer Resolution des Gipfels im September 2009 den Grundstein für internationale Regulierungsprojekte und Standards im Bereich des ausserbörslichen Derivatehandels (OTC; Kauf und Verkauf zwischen privaten Parteien) und der Finanzmarktinfrastruktur (Börsen und andere Handelsplätze, zentrale Gegenparteien, Zentralverwahrer, Zahlungssysteme und Transaktionsregister). Dementsprechend widmete die Verwaltung diesem Thema ihre Aufmerksamkeit. In der Finanzmarktstrategie des Bundesrates vom Dezember 2009 heisst es bspw.: «Die Finanzmarktinfrastruktur ist jedoch nicht ein für allemal gebaut. Die Innovationen an den internationalen Finanzmärkten werden anhalten und mit ihnen der Bedarf, die Infrastruktur weiterzuentwickeln. (…). Heute besteht Handlungsbedarf im OTC-Derivatemarkt.»
Teil 1. Aufgrund des internationalen Drucks sah die Verwaltung im genannten Themenbereich schliesslich Handlungsbedarf auf Stufe des Gesetzes. Z.B. heisst es in einem Interview mit einer direktbeteiligten Person aus der Verwaltung:
Wir haben gemerkt, das geht viel weiter, wir müssen die Grundlagen ändern. Wir können das nicht einfach mit ein wenig Bundesrat und ein wenig FINMA … die Verordnung anpassen. Sondern da muss man ganz grundsätzlich dahinter, da müssen wir neu regeln. (…). Wir haben das angefangen zu analysieren, kurz, wir haben nicht lange gebraucht und gesagt, da brauchen wir einen Auftrag. Da müssen wir einen Gesetzgebungsprozess machen.
Gemäss Interviews mit Personen aus der Verwaltung und internen Dokumenten der Verwaltung gab es zu dieser Idee einen Austausch zwischen der Verwaltung und der Branche. Z.B. schickte die Verwaltung einen Fragebogen an die relevanten Anspruchsgruppen.
Teil 2. In der Finanzbranche und der Verwaltung war man sich im Grossen und Ganzen einig, dass ein Gesetzgebungsprojekt notwendig ist. In einem Interview mit einer direktbeteiligten Person aus der Verwaltung heisst es z.B.: «Das war in diesem Sinne spannend, dass eigentlich Einigkeit bestand zwischen der Branche, uns [Zentralverwaltung] und der Aufsichtsbehörde und die Nationalbank natürlich auch, dass man hier dringendst regulieren muss.» Kurzum: Die Verwaltung sah sich nicht mit grundlegender Kritik an ihrem Vorhaben konfrontiert.
Teil 3. Die logische Konsequenz der Absenz von grundlegender Kritik an dem Vorhaben der Verwaltung war, dass die Verwaltung ihr Vorhaben nicht justieren musste und einen Gesetzgebungsauftrag beim Bundesrat beantragte.
Outcome. Am 29. August 2012 folgte schliesslich der Gesetzgebungsauftrag des Bundesrates an die Verwaltung. In der entsprechenden Medienmitteilung heisst es:
Der Bundesrat hat an seiner heutigen Sitzung beschlossen, neue gesetzliche Regelungen für den ausserbörslichen Handel mit Derivaten einzuführen. Gleichzeitig soll die Regulierung im Bereich der Finanzmarktinfrastruktur angepasst werden. Das Eidgenössische Finanzdepartement wurde beauftragt, bis im Frühjahr 2013 eine Vernehmlassungsvorlage auszuarbeiten.
Die Fallstudien weisen darauf hin, dass die Initiierung von Gesetzgebungsverfahren zu einem gewissen Grad immer von fallspezifischen Eigenheiten geprägt ist. Bspw. spielte in den untersuchten Fällen eine Eintretensdebatte in einer parlamentarischen Kommission (Fallstudie 1), eine Vernehmlassung (Fallstudie 2), eine öffentliche Anhörung (Fallstudie 3), ein Bericht des Bundesrates (Fallstudie 4) oder sich fernab der Öffentlichkeit abspielender Austausch zwischen der Verwaltung und der Finanzbranche (Fallstudie 5) eine Rolle.
Jedoch gibt es gemäss den Fallstudien in der Initiierung fallübergreifende Gesetzmässigkeiten. Allgemein gesprochen zeigen alle Fallstudien, dass die Initiierung von Gesetzgebungsverfahren immer aus langwierigen Entscheidungsprozessen zwischen verschiedenen politischen Akteuren besteht. Konkreter besteht die Initiierung bei Gesetzgebungsprojekten aus der Verwaltung wie theoretisiert aus einem Entscheidungsprozess zwischen der Verwaltung und den relevanten politischen Akteuren eines Politikfelds. Im Einklang mit den theoretischen Überlegungen kommt der Verwaltung also eine zentrale Rolle in der Initiierung zu. Präziser gesagt hatten in den untersuchten Fällen Fachämter bzw. Staatssekretariate (SIF [Fallstudien 4 und 5], SEM [Fallstudie 1], ARE [Fallstudie 2]) die tragende Rolle. In einem Fall (Fallstudie 3) war zudem die dezentrale Verwaltung (FINMA) entscheidend.
In vier der fünf Fallstudien konnte überzeugende Evidenz gefunden werden, dass die Verwaltung in der Initiierung aufgrund der Kritik relevanter politischer Akteure profunde Änderungen an ihren Vorhaben vornahm (Teil 3 des Mechanismus der strategischen Präemption). In anderen Worten: Wie theoretisiert band die Verwaltung die Interessen der für ein Politikfeld zentralen Akteure mit ein. Im untersuchten Fall im Raumplanungsbereich handelte es sich um die Kantone, im Migrationsbereich um eine parlamentarische Kommission und in den untersuchten Fällen im Finanzmarktbereich insb. um die Finanzbranche.
Weshalb änderte die Verwaltung ihre Vorhaben ab? Die Neuausrichtung der Gesetzgebungsprojekte durch die Verwaltung in Fallstudien 2, 3 und 4 lässt sich damit erklären, dass die Verwaltung künftige Vetopunkte antizipieren wollte und die Funktionalität der künftigen Gesetzgebung sicherstellen wollte. Z.B. geschah die Neuausrichtung des Gesetzgebungsprojekts in Fallstudie 4 (Revision des Geldwäschereigesetzes) im Kontext von Diskussionen rund um die Praktikabilität – und somit um die Funktionalität – der künftigen Gesetzgebung. Gleichzeitig kann man die Neuausrichtung auch als Antizipation von Widerstand im künftigen Gesetzgebungsverfahren sehen. Bei Fall 1 ist die Neuausrichtung des Gesetzgebungsprojekts mit Überlegungen der Verwaltung betreffend der Funktionalität der Gesetzgebung erklärbar. Das Parlament trat nämlich auf die Asylgesetzrevision, welche die Verwaltung in Teil 1 der Prozessdynamik vorgeschlagen hat, ein.
Fallstudie 5 (Finanzmarktinfrastrukturgesetz) deutet zudem darauf hin, dass die Verwaltung ihre Vorhaben in der Initiierung nicht abändert, wenn zwei kontextuelle Bedingungen vorliegen: komplexe/technische Thematik und starker internationaler Druck. Zwar konnte in der entsprechenden Fallstudie ein Austausch zwischen der Verwaltung und den relevanten Anspruchsgruppen festgestellt werden und Evidenz für Teil 1 des Mechanismus der strategischen Präemption (Verwaltung schlägt vor) gefunden werden. Jedoch konnte keine Evidenz für Teil 2 (politische Akteure kritisieren) und Teil 3 (Verwaltung ändert ab) des Mechanismus der strategischen Präemption gefunden werden.
Was bedeuten diese Ergebnisse für die rechtswissenschaftliche Literatur? Die Ergebnisse dieses Beitrags fordern die Vorstellung der Rechtsetzungslehre, dass die Entstehung eines Gesetzgebungsprojekts mit dem Gesetzgebungsauftrag und dem darauffolgendem Gesetzgebungsverfahren beginnt (Müller et al. 2024, 269 ff.), heraus. Gesetzgebungsaufträge sind also nicht der Beginn eines Gesetzgebungsprojekts, sondern ein Zwischenschritt in einem langwierigen politischen Entscheidungsprozess rund um die Genese eines neuen Gesetzes oder der Revision eines bestehenden Gesetzes. In der Initiierung werden die zentralsten Weichen für ein Gesetzgebungsprojekt gestellt.
Dementsprechend greift die konzeptionelle Unterscheidung der sog. Trias der Rechtsetzungslehre betreffend der Initiierung von Gesetzgebungsprojekten angesichts meiner empirischen Ergebnisse zu kurz. Die Trias der Rechtsetzungslehre geht davon aus, dass drei Arten von Impulsen Gesetzgebungsverfahren anstossen können: politische Impulse, übergeordnetes Recht (bzgl. Projekten auf Stufe des Gesetzes also Verfassungsänderungen und internationale Standards) und Feststellung von Mängeln des geltenden Rechts (Müller et al. 2024, 72–77). Zum einen zeigen die Ergebnisse dieses Beitrags, dass die Initiierung von Gesetzgebungsverfahren immer auf (einer Pluralität von) politischen Impulsen fusst. Ob und mit welcher inhaltlichen Ausrichtung ein Gesetzgebungsverfahren initiiert wird, ist ein politischer Entscheidungsprozess. Zum anderen zeigen die Fallstudien, dass mehrere der drei Komponenten der Trias gleichzeitig vorliegen können. Z.B. gab es bei Fallstudie 4 (Revision des Geldwäschereigesetzes) politische Impulse und Impulse des übergeordneten Rechts (internationale Standards).
Meine Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass Gesetzgebungsaufträge weniger inhaltlichen Spielraum offenlassen als angenommen. Zwar stimme ich den bestehenden Studien zu, dass Gesetzgebungsaufträge bei Gesetzgebungsprojekten aus der Verwaltung in der Regel relativ offen ausgestaltet sind (Delley et al. 2009; Jochum/Ledermann 2009). Jedoch zeigen die Ergebnisse meines Beitrages, dass während der Initiierung politische Handlungsalternativen «gefiltert» und selektioniert werden. Ein Beispiel: Der Gesetzgebungsauftrag bei Fallstudie 4 beinhaltete die Prüfung der Neustrukturierung des Asylbereichs durch die Schaffung von Bundeszentren. Es ist offensichtlich, dass zur Zeit des Gesetzgebungsauftrages noch viele Fragen ungeklärt blieben, welche in einem langwierigen Gesetzgebungsverfahren geklärt werden mussten. Jedoch wurde durch den Entscheidungsprozess während der Initiierung und dem darauffolgenden Gesetzgebungsauftrag die Option einer kleinen Revision des Asylgesetzes sowie die Option der Neustrukturierung des Asylbereichs inklusive einer umfassenden Zuständigkeit des Bundes für den Asylbereich (Wegweisungsvollzug, etc.) verworfen. In anderen Worten: Gesetzgebungsaufträge lassen Spielraum zu, aber nur in einem gewissen Rahmen.
Des Weiteren bergen die Ergebnisse dieses Beitrages Implikationen für die Debatte über die Qualität der Gesetzgebung (Fontana et al. 2015; Mader 2007; Schmid et al. 2007). Wie man die Ergebnisse für die Qualität der Gesetzgebung deutet, hängt weitgehend davon ab, ob man eine produkt- oder prozessorientierte Perspektive einnimmt. Beide Perspektiven sind in der Debatte verbreitet (Mader/Rütsche 2004, 138 ff.; Müller et al. 2024; Rüefli 2017; Widmer 2015).
Theoretisch gesehen könnte man die Ergebnisse aus einer produktorientierten Perspektive als negative Nachricht für die Debatte über die Qualität der Gesetzgebung werten. Zumindest in Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur ist das Narrativ verbreitet, dass möglichst wenig Politik «gut» für die Qualität der Gesetzgebung sei. Dieses Narrativ rührt aus der Vorstellung, dass nur Juristinnen und Juristen (in der Verwaltung und/oder externe Expertinnen und Experten) ein Qualitätsbewusstsein und die Expertise haben, welche für «gut» geschriebene Gesetze und «gute» Lösungen erforderlich seien (Griffel 2014; Müller et al. 2024, 41, 227–229). Bspw. schreibt Griffel (2023), dass, wenn von der Verwaltung «von Anfang an die Betroffenen einbezogen» werden, die Zutaten, «um zu einem möglichst schlechten Ergebnis zu gelangen», gegeben sind. Salopp formuliert: Gemäss einigen rechtswissenschaftlichen Autorinnen und Autoren werden Gesetze am besten, wenn sie im stillen Kämmerlein von Juristinnen und Juristen geschrieben werden. Dieser Logik folgend, könnte man argumentieren, dass die Ergebnisse dieses Beitrages bedeuten, dass es «schlecht» um die Qualität der Gesetzgebung stehe. Als Grund könnte man aufführen, dass politische Entscheidungsprozesse schon vor dem eigentlichen Gesetzgebungsverfahren beginnen. Die Qualität von Gesetzgebungsprojekten leidet nicht nur im Zuge von Vernehmlassungen und parlamentarischen Beratungen durch «die Politik», sondern Gesetzgebungsprojekte werden sogar durch für die Qualität der Gesetzgebung suboptimale politische Prozesse initiiert – könnte eine Argumentationsweise sein.
Aus einer prozessorientierten Perspektive drängt sich aber eine positive Sichtweise auf. In der rechtswissenschaftlichen Literatur gibt es auch Kriterien «guter» Gesetzgebung, welche sich auf die Genese eines Gesetzgebungsprojekts beziehen (Mader/Rütsche 2004, 138 ff.; Müller et al. 2024, 80–86, 162–168). Diese Kriterien verlangen, dass während der Entstehung einer Gesetzesvorlage verschiedene Interessen berücksichtigt werden und dass diskutiert wird, ob und mit welcher Ausrichtung ein Gesetzgebungsprojekt erforderlich ist. Bspw. fordert das Kriterium der Notwendigkeit, dass (bereits in der Initiierung) die Frage gestellt wird, ob es ein Gesetzgebungsprojekt überhaupt braucht (Müller et al. 2024, 80–86). Ein weiteres Beispiel ist das Kriterium der Praktikabilität, welches fordert, dass während der Genese einer Gesetzesvorlage der Vollzug in der Praxis und die Interessen der für die Implementation relevanten Akteuren berücksichtigt wird (Müller et al. 2024, 165–166; Rüefli 2016). Die Fallstudien zeigen, dass Aspekte wie Notwendigkeit und Praktikabilität in der Initiierung ausgiebig ausgehandelt werden. Zumindest wenn man die Kriterien «guter» Gesetzgebung, welche man aus einer Prozess- und somit aus einer Initiierungsperspektive diskutieren kann, ernst nimmt, steht es gemäss den Ergebnissen dieses Beitrages also wohl nicht so schlecht um die Qualität der Gesetzgebung.
Die Ausgangslage dieses Beitrags war die Feststellung, dass sich die Rechtsetzungslehre bis anhin kaum mit der Initiierung von Gesetzgebungsverfahren auseinandergesetzt hat (Müller et al. 2024, 72–77). Vor diesem Hintergrund untersuchte ich die politischen Entscheidungsprozesse, welche zu Gesetzgebungsaufträgen des Bundesrates an die Verwaltung zur Ausarbeitung von Normkonzepten und Gesetzesentwürfen führen.
Auf der Grundlage von theoretischen Überlegungen (siehe Kapitel «Mechanismus der strategischen Präemption») und fünf empirischen Fallstudien argumentierte ich, dass die Initiierung von Gesetzgebungsverfahren aus politischen Entscheidungsprozessen besteht, in denen die Verwaltung strategisch von ihren ursprünglichen Vorschlägen abrückt und Kompromisse eingeht. Die Verwaltung bindet bereits in der Initiierung die Kritik zu ihren Vorhaben ein, um Vetopunkte im künftigen Entscheidungsprozess früh zu antizipieren und um die Funktionalität der künftigen Gesetzgebung zu gewährleisten.
Somit komplementiert dieser Beitrag die (rechtswissenschaftlichen) Literatur in zweierlei Hinsicht. Erstens schärfe ich das Bewusstsein für die politischen Entscheidungsprozesse vor Gesetzgebungsaufträgen und zeige auf, wie die Initiierung funktioniert. Zweitens liefere ich neue Grundlagen für die Debatte über die Qualität der Gesetzgebung (Griffel 2014). Wie das Kapitel «Diskussion» gezeigt hat, bleibt es ambivalent, was die Ergebnisse für die Qualität der Gesetzgebung bedeuten. Aus einer prozessorientierten Perspektive kann man die Ergebnisse aber als gute Neuigkeiten für die ansonsten kulturpessimistische Debatte über die Qualität der Gesetzgebung deuten.
Die nennenswerteste Limitation dieser Studie ist, dass nur eine kleine Fallzahl untersucht wurde. Künftige Beiträge sollten a) weitere Fälle diskutieren, u.a. können Fälle in weiteren Politikfeldern berücksichtigt werden, und b) untersuchen, ob die Initiierung auf der Stufe der Verordnung ähnlich funktioniert.
Dr. phil. Raphael Capaul. E-Mail: raphael.capaul@uzh.ch.
Dieser Artikel ist im Rahmen des Forschungsprojekts «Faktoren guter Rechtsetzung» entstanden, welches die Stiftung für Schweizerische Rechtspflege finanzierte.
Ich bedanke mich bei Derek Beach und Gabriel Gertsch für deren hilfreiche Kommentare zu diesem Beitrag.
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